14. Juni 2012

Der Besucher - Sarah Waters

Produktinfos:

Ausgabe: 2011
Seiten: 573 Seiten
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Die Autorin:

Sarah Waters wurde 1966 in Wales geboren. Sie studierte englische Literatur und schrieb ihre Dissertation über Homosexualität in der Literatur, was ihr häufig als Inspiration für ihre Werke dient. Mittlerweile erhielt sie zahlreiche Preise, z.B. den British Book Awards Author of the Year, den Crime Writers' Association Ellis Peters Historical Dagger, den Sunday Times Young Writer of the Year Award und war für den Booker Prize nominiert. Weitere Werke von ihr sind "Die Muschelöffnerin", "Die Frauen von London" und "Selinas Geister".

Inhalt:

Wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: In einem ländlichen Teil Englands liegt das herrschaftliche Anwesen Hundreds Hall der Familie Ayres. Als Kind war der Arzt Dr. Faraday hier schon mal zu Besuch, seine Mutter arbeitete dort als Kindermädchen. Eines Tages wird er als Vertretung des Hausarztes nach Hundreds gerufen. Das Anwesen fasziniert ihn noch wie damals, doch das Haus ist vom Verfall bedroht, die Familie offenbar verarmt.

Die Ayres leben seit Jahren sehr zurückgezogen. Die verwitwete Mrs. Ayres ist eine liebenswerte ältere Dame. Ihre unverheiratete Tochter Caroline ist eine recht burschikose, wenig attraktive Frau, die aber herzlich und lebensfroh wirkt. Sohn Roderick, der die Leitung der Landwirtschaft übernommen hat, ist seit dem Krieg sehr launisch und wortkarg. Das liegt vor allem an seiner Beinverletzung, die ihn hinken lässt. Dr. Faraday besucht die Familie von nun an regelmäßig und behandelt Rodericks Leiden mit einer neuartigen Therapie.

Eines Tages vertraut ihm Roderick seltsame Ereignisse im Haus an. Gegenstände sollen sich von alleine bewegt haben, unerklärliche Flecken erscheinen an den Wänden. Dr. Faraday schreibt es seinen überspannten Nerven zu. Eines Nachts brechen mehrere Feuer in Rodericks Zimmer aus, deren Ursprung unklar ist. Roderick kommt zu seinem eigenen Schutz in eine Pflegeanstalt. Doch die seltsamen Vorgänge auf Hundreds reißen nicht ab. Bald hören auch Mrs. Ayres, Caroline und das Dienstmädchen Betty die Geräusche ...

Bewertung:

Sarah Waters ist bekannt für Romane, die das viktorianische England wieder zu Leben erwecken und Atmosphäre mit intrigenreicher Handlung verbinden. "Der Besucher" spielt zwar in der Nachkriegszeit, steht aber ganz in der Tradition der viktorianischen Schauerromane. Das herrschaftliche Anwesen, immer noch imposant aber bereits im Verfall begriffen sowie seine Bewohner sind ein großartiger Spiegel einer niedergehenden Gesellschaftsschicht. Familie Ayres hält noch am Glanz vergangener Tage fest, als Hundreds regelmäßig der Schauplatz für glamouröse Feiern war. Vor allem Mrs. Ayres ist eine liebenswerte Dame, die allerdings noch in der Zeit der Jahrhundertwende zu leben scheint. Hundreds Hall und seine Bewohner stehen im krassen Gegensatz zum raschen Wandel der Umgebung, der immer weiter fortschreitenden Industrialisierung. Kam Leuten wie ihnen vor Jahrzehnten noch Ehrfurcht und Bewunderung entgegen für ihren gesellschaftlichen Rang und ihr Anwesen, so gelten sie heute im Dorf eher als antiquiert und leicht verschroben. Die beinah klaustrophobische Atmosphäre auf Hundreds nimmt nicht nur Dr. Faraday für sich ein, sondern auch den Leser. Einerseits erscheint das Anwesen faszinierend und strahlt noch etwas vom Glanz alter Tage aus, andererseits ereignen sich dort zunehmend unerklärliche bis unheimliche Vorfälle und es scheint, dass der Herrensitz seiner Familie mehr und mehr Unglück bringt.

Besonders gelungen ist an dem Roman die ausgefeilte Darstellung der Charaktere und ihrer Beziehungen untereinander. Die Grundkonstellationen laden zu gewissen Klischees ein - auf die die Autorin aber erfrischenderweise verzichtet. So ist Dr. Faraday kein schmucker junger Mann, kein eleganter Intellektueller, sondern ein Mann Anfang vierzig, der sich mit seiner etwas abgetragenen Kleidung und dem allmählich lichter werdenden Haar nicht besonders attraktiv findet und der als einfacher Landarzt wenig Geld verdient. Es wäre naheliegend gewesen, zwischen ihm und der jungen Caroline schnell eine Romanze einzubauen. Doch stattdessen ist Caroline eher unattraktiv und obwohl sie ein sympathisches Wesen hat, ist das Verhältnis zwischen Dr. Faraday und ihr für sehr lange Zeit nicht durch den geringsten Flirt geprägt. Überhaupt geht die Annäherung zwischen Dr. Faraday und den Ayres nur sehr langsam voran, was die Geschichte so authentisch macht. Er kommt zwar über Wochen regelmäßig zu Besuch, aber als dann eine Abendgesellschaft stattfindet, wird er nur auf Carolines spontane Initiative hin eingeladen, Mrs. Ayres hatte ihn offenbar noch nicht auf eine Stufe mit ihren anderen Bekannten gestellt.

Dieses langsame Fortschreiten der Handlung, die ausführlichen Beschreibungen der Räumlichkeiten, das zähflüssige Näherkommen zwischen Dr. Faraday und den Ayres machen einerseits den Reiz des Romans aus - stellen den Leser aber auch auf kleine Geduldsprobe. Viele Seiten passiert nicht viel und man muss es mögen, einfach langsam in diese Atmosphäre einzutauchen und die Charaktere näher kennen zu lernen. Das kann vor allem stören, wenn man auf die Geistererscheinungen wartet, die im Klappentext angekündigt werden. Bis das Klopfen und andere unerklärliche Geschehnisse einen breiten Raum in der Handlung einnehmen, vergeht eine lange Zeit. Es gibt auch am Ende keine eindeutige Erklärung - zwar eine Andeutung, bei der sich der Leser den Rest zusammenreimen kann, aber es ist genauso möglich, alle Erscheinungen auf rationale Art zu erklären. Darin liegt ohne Frage ein Reiz, wer sich aber speziell auf ein Gruselwerk im Stil von Shirley Jacksons "Spuk von Hill Haus" gefreut hat, kann leicht enttäuscht werden.

Fazit:

Ein insgesamt sehr gelungener Roman, der in Englands Nachkriegszeit spielt und phasenweise an die Tradition viktorianischer Schauerromane erinnert. Die Charaktere sind gelungen, die Handlung entwickelt nach und nach eine Sogwirkung dank der dichten Atmosphäre. Allerdings muss der Leser Geduld aufbringen, denn die Handlung entwickelt sich nur sehr langsam, die angekündigten unheimlichen Vorgänge kommen auch erst spät ins Spiel und sind etwas weniger dominant, als die Beschreibung vermuten lässt.

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