10. Juni 2012

Der Leichendieb - Robert Louis Stevenson

Produktinfos:

Erscheinungsjahr: 2006
Laufzeit: 65 Minuten
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Der Autor:

Robert Louis Stevenson wurde in Edinburgh geboren und lebte von 1850-1894. Zunächst studierte er Technik, später Rechtswissenschaft, widmete sich dann aber der Literatur. Er unternahm aus gesundheitlichen Gründen viele Reisen in südliche Länder, die ihn unter anderen zu seinen Abenteuerromanen inspirierten. Seine bekanntesten Werke sind "Die Schatzinsel" sowie "Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde".

Inhalt:

Debenham, 1849: Vier Männer sitzen regelmäßig in der Gaststube "George", trinken etwas und unterhalten sich - der Wirt Dick, der Leichenbestatter Alfred, der junge Robert und Fettes. Fettes ist ein heruntergekommener Schotte, über dessen Herkunft niemand etwas Genaues weiß und der sich allabendlich dem Rum ergibt. Die Freunde ahnen nur, dass er medizinische Kenntnisse besitzt, und nennen ihn daher scherzhaft den "Doktor". Eines Abends erzählt der Wirt, dass ein Gast verunglückt ist und ein Arzt gerufen wurde, ein gewisser Dr. MacFarlane. Fettes erkennt in ihm einen alten, verhassten Bekannten und erzählt seine Geschichte:

Edinburgh, 1829: Der junge Fettes studiert mit großem Ehrgeiz Medizin im zweiten Jahr und hofft, die freie Stelle des Hilfsassistenten bei Professor Knox zu erhalten, die sowohl Ansehen als auch viel Geld mit sich bringt. Sein Freund MacFarlane, der Assistent des Professors, legt ein gutes Wort für ihn ein. Fettes erhält die Stelle, bei der er unter anderen nachts die für Forschungszwecke bestimmten Leichen entgegennehmen muss und die Verantwortung für den Anatomiesaal übernimmt.

Zu seiner Überraschung werden nicht nur, wie vom Gesetz vorgeschrieben, hingerichtete Menschen dafür hergenommen, sondern auch illegal ausgegrabene Leichen. Unwohl akzeptiert er die Sitte und schwört, darüber zu schweigen. Bald darauf aber wird ihm jemand gebracht, den er im Leben gut kannte und der unmöglich an einer natürlichen Ursache gestorben sein kann. Fettes ahnt, dass er einem grausigen Gewerbe auf die Schliche gekommen ist ...

Bewertung:

Die gleichnamige Erzählung von Robert Louis Stevenson lieferte die Vorlage für dieses überaus gelungene Hörspiel aus dem Hause "Titania Medien", die 27. Folge der hochwertigen "Gruselkabinett"-Reihe.

Gelungene Charaktere

Im Mittelpunkt steht Fettes, der undurchsichtige Schotte, der zum ersten Mal anderen Menschen sein trauriges Schicksal erzählt. Der junge Fettes ist von ganz anderem Schlag als der Trunkenbold der Gegenwartshandlung, ein hübscher, aufgeweckter Mann mit großem Ehrgeiz und einer außerordentlichen Begabung für die Medizin. Obwohl eigentlich zu unerfahren für den Posten, erhält er die Stelle, da in ihm großes Potenzial gesehen wird. Als Fettes erfährt, dass die Leichen für die anatomischen Studien illegal beschafft werden, regt sich sofort sein Gewissen. Doch andererseits versteht er die Argumentation, dass die im Durchschnitt jährlich zehn Hingerichteten nicht ausreichen, um die Institute zu versorgen. Der Gipfel ist jedoch erreicht, als er ahnt, dass nicht nur Leichen ausgegraben werden, sondern womöglich auch Lebende nur für den Seziertisch getötet werden. Fettes' Schicksal ist bewegend und beängstigend zugleich; er ist Mitwisser und Mittäter wider Willen, eine gequälte Seele, die in die grauenvollen Machenschaften verwickelt wird.

Sein charismatischer Gegenüber ist der ebenfalls noch junge MacFarlane, ein eleganter Mann, dessen Freundschaft zu Fettes fast homoerotische Anklänge birgt. Souverän und selbstsicher wie er ist, vertraut Fettes seinen Handlungen und unterdrückt die eigene Unsicherheit. Umso desillusionierender ist für Fettes die Entdeckung, dass MacFarlane seine Bewunderung gar nicht verdient hat und zu abscheulichen Taten fähig ist.

Der dritte wichtige Charakter ist der schmierige Gray, der ehemalige Vorgesetzte von MacFarlane, der ihn nach jahrelanger Suche wiedergefunden hat. Im Beisein des ahnungslosen Fettes lässt Gray eine ironische Spitze nach der anderen auf MacFarlane los und deutet an, dass er ihn erpresst. Gray ist ein aufdringlicher Unsympath, der sich auf MacFarlanes Kosten bewirten lässt und ihn offenbar gleichzeitig in der Hand hat - und Fettes, immer noch einigermaßen naiv, ahnt zunächst nicht, um was es sich dabei handelt.

Dichte Atmosphäre

Kaum jemand versteht es besser als R. L. Stevenson, eine unheimliche Stimmung in der Handlung zu erzeugen, und das Hörspiel setzt dies überzeugend um. Obwohl erst kurz vor Schluss ein übernatürliches Element eingebaut wird, läuft dem Hörer durchaus ab und zu ein Schauer über den Rücken. Dafür sorgt allein schon Fettes Aufgabe, nachts oder im Morgengrauen die Leichen entgegenzunehmen, die dann zerschnitten und an die Studenten verteilt werden.

Die gruseligsten Momente erlebt man auf einer nächtlichen Fahrt auf einen Friedhof, aber schon lange zuvor hat einen der fatale Verlauf der Handlung in seinen Bann gezogen. Ganz automatisch verbündet man sich mit dem sympathischen, unbedarften Fettes, dessen Erscheinung in so krassem Gegensatz zu seinem aktuellen Auftreten zwanzig Jahre danach steht. Obwohl man weiß, dass Fettes das grauenvolle Abenteuer zumindest überlebt, ist man gespannt, was ihm in seiner Zeit als Hilfsassistent alles widerfährt und wer aus seinem Umfeld möglicherweise sterben muss.

Interessant ist außerdem die Einbindung von Professor Knox, den es tatsächlich geben hat, ebenso wie den kurz von MacFarlane erwähnten hingerichteten Mörder William Burke. Burke ermordete 1827 und 1828 zusammen mit einem Komplizen siebzehn Menschen, um sie anschließend als Anatomieleichen zu verkaufen - vor allem an den bis dato hoch angesehen Professor Knox, der daraufhin seine Stelle als Kurator des Anatomiemuseums verlor. Bekannt wurden diese Taten als West-Port-Morde, und der Leichenräuberei wurde mit einem neuen Gesetz von 1832 ein Ende gemacht, da von nun an auch von den Angehörigen freigegebene Leichen verwendet werden durften.

Ab und zu wird die Handlung dezent im Hintergrund mit leiser Musik untermalt, vor allem bei den Szenen, die in Gaststätten spielen, was das Hörspiel besonders authentisch wirken lässt. Gegen Ende auf der Friedhofsfahrt wird die Musik etwas dramatischer, aber nie so laut, dass sie die Dialoge übertünchen würde.

Sehr gute Sprecher


Alle Mitwirkenden liefern eine sehr gute Leistung ab. Michael Pan spricht sowohl den jungen als auch den älteren Fettes, und das beides sehr überzeugend. Als älterer Mann ist seine Stimme scheinbar stark vom Alkohol angegriffen, er wird rasch laut im Gespräch und poltert los und wirkt sehr glaubwürdig als Trunkenbold. Der junge Fettes besitzt zwar ebenfalls eine leicht kratzige Stimme, spricht aber viel melodischer, und Pan überzeugt hier als junger, etwas nervöser Mann, der leicht die Fassung verliert. Pans Stimme kennt man übrigens vor allem als Lt. Commander Data aus der Serie "Star Trek - The Next Generation" oder als deutsche Ausgabe von Gary Oldman.

Hans-Werner Bussinger spricht Professor Knox und verleiht ihm die notwendige autoritäre Ausstrahlung, die keinen Widerspruch seitens Fettes duldet. Bussinger kennt man u. a. aus Nebenrollen bei Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen sowie als Synchronstimme von Lee Majors in "Ein Colt für alle Fälle" und als Titelfigur in "Quincy".

Herausstechend in jeder Hinsicht ist Wilfried Herbst als der unangenehme Gray. Seine Stimme ist bekannt als Sekretär Pichler bei Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen, aber auch als Synchronisation von Mr. Bean alias Rowan Atkinson. Herbst besitzt eine sehr variable, hohe Stimme, die mal penetrant schrill und mal einschmeichelnd-sanft klingt. Dabei bewegt sich Herbst hart an der Grenze des Erträglichen und wirkt mitunter übertrieben und fast unfreiwillig komisch; obgleich er seine Sache sehr gut macht, ist es von Vorteil, dass er nur einen recht kleinen Part im Hörspiel einnimmt.

Kaum Schwächen

Einziges Manko ist die etwas zu ausführlich geratene Rahmenhandlung zu Beginn der Geschichte. Anstatt dass Fettes nur andeutet, dass ihn schlimme Ereignisse mit MacFarlane verbinden, wird aus dem Dialog zwischen ihm und dem Arzt recht viel von den kommenden Geschehnissen ersichtlich.

Auf jeden Fall wird zu viel von der Binnenhandlung vorweg genommen, was den Spannungsfaktor unnötigerweise ein wenig mindert. Dazu sei gesagt, dass in der Vorlage von Stevenson diese Andeutungen nämlich wesentlich subtiler sind: Hier spricht Fettes seinen früheren Freund nur ganz kurz an, und dieser verschwindet nach wenigen Worten, sodass der Leser kaum ahnt, auf was Fettes angespielt hat, und sodass dessen Erzählung weniger vorhersehbar ist.

Fazit:

Eine hervorragende Umsetzung der gruseligen Vorlage von Robert Louis Stevenson mit sehr guten Sprechern und intensiver Atmosphäre. Schade ist nur, dass die Rahmenhandlung zu Beginn schon ein bisschen zu viel vorwegnimmt. Ansonsten eine uneingeschränkte Empfehlung für alle Freunde von unheimlicher Literatur, auch für jugendliche Hörer sehr gut geeignet.

Sprechernamen:

Fettes: Michael Pan
MacFarlane: Torsten Michaelis
Prof. Knox: Hans-Werner Bussinger
Gray: Wilfried Herbst
Robert: David Turba
Dick, Wirt: Ernst Meincke
Alfred, Totengräber: Frank Schaff
Skinner: Andreas Mannkopff
Jane Galbraith: Melanie Hinze

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