15. Juni 2012

Der Verdacht des Mr. Whicher oder Der Mord von Road Hill House - Kate Summerscale

Produktinfos:

Ausgabe: 2010
Seiten: 430
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Die Autorin:

Kate Summerscale, geboren 1965, wurde in England bekannt durch ihr Buch The Queen of Whale Cay (deutsch: Kerle wie wir), das ein Nr. 1-Times-Bestseller war und den Somerset Maugham Award gewann. Sie lebt mit ihrem Sohn in London.

Inhalt:


Eine Sommernacht im Jahr 1860 in Wiltshire: In dem herrschaftlichen Landhaus des reichen Fabrikinspektors Samuel Kent, der hier mit seiner zweiten Frau und sieben Kindern aus erster und zweiter Ehe lebt, geschieht in dieser Nacht etwas Schreckliches. Am frühen Morgen ist der dreijährige Saville aus seinem Kinderbett verschwunden. Es beginnt eine groß angelegte Suche nach dem Kind, bis seine Leiche schließlich in der Sickergrube gefunden wird - mit durchgeschnittener Kehle.

Schon bald deutet alles darauf hin, dass der Mörder aus dem engsten Umfeld stammen und unter den Hausbewohnern zu finden sein muss. Road Hill House war in der Nacht verschlossen, es gibt keine Einbruchsspuren. Die Polizei verdächtigt zunächst die Dienstboten, allen voran das Kindermädchen, das für Saville zuständig war. Doch auch nach rund zwei Wochen gibt es keine konkreten Hinweise, die Bevölkerung reagiert zunehmend unruhig.

Das Innenministerium reagiert schließlich und schickt den Scotland Yard-Detective Inspector Jonathan Whicher zur Unterstützung. Whicher wird mit einer äußerst schwierigen Aufgabe konfrontiert: Zum einen kooperiert die örtliche Polizei alles andere als ideal mit dem Neuling, zum anderen wird es teilweise als frevelhaft betrachtet, dass er Mitglieder einer angesehenen bürgerlichen Familie des Mordes verdächtigt. Unbeirrt ermittelt Whicher weiter und kommt schließlich der Wahrheit hinter der grausamen Tat auf die Spur ...

Bewertung:

Es klingt wie der typische Plot eines klassischen Landhauskrimis: Ein herrschaftliches Anwesen, eine Reihe von Bewohnern, ein nächtlicher Mord und die Gewissheit, dass der Täter unter den Bewohnern sein muss. Was sich wie ein wohliges Krimivergnügen anhört, ist tatsächlich ein wahrer Kriminalfall, der im viktorianischen England hohe Wellen schlug und der noch heute berühmt ist. Große Kriminalautoren wie Wilkie Collins und Charles Dickens ließen sich von dem Fall zu Werken inspirieren und noch heute berühren die Schilderungen dieser Ereignisse, die letztendlich nicht nur der Familie selbst schadeten, sondern auch für andere Beteiligte schlimme Folgen hatten. Kate Summerscale hat hier eine faszinierende Mischung aus Roman und Dokumentation geschaffen, die in Großbritannien mit dem Samuel Johnson-Preis ausgezeichnet wurde, einer der höchsten Anerkennungen für nicht-fiktionale Literatur. In erster Linie ist "Der Verdacht des Mr. Whicher" ein Sachbuch, das sich mit einem wahren Kriminalfall und seinen Hintergründen sowie den Anfängen der kriminalistischen Arbeit und der frühen Geschichte von Scotland Yard befasst.

Der Fall ist zunächst so schockierend wie unverständlich. Ein dreijähriger Junge wird ermordet, offenbar von einem Familienmitglied. Die Frage nach einem möglichen Motiv gibt Rätsel auf, denn welchen Grund kann es geben, um ein Kleinkind aus der eigenen Familie zu ermorden? Nach und nach aber ergeben sich tatsächlich denkbare Hintergründe für das unfassbare Verbrechen - vielleicht war der kleine Saville Anlass für Eifersucht unter den Familienmitgliedern, vielleicht hat der Dreijährige etwas gesehen, das nicht für seine Augen bestimmt war und das er niemandem verraten durfte, vielleicht gibt es auch ein geistesgestörtes Familienmitglied, das dem Wahn verfallen ist? Dabei ist es doch auf den ersten Blick eine tadellose Familie: Samuel Kent ist in seiner Eigenschaft als Fabrikinspektor nicht sonderlich beliebt bei der Bevölkerung, aber ein recht angesehener Mann. Aus seiner ersten Ehe leben Mary Ann (29), Elizabeth (28), Constance (16) und William (14) im Haus, mit seiner zweiten Frau Mary hat er außer Saville noch die fünfjährige Mary Amelia, die einjährige Eveline und seine Frau ist gerade im achten Monat schwanger.

Die Nachforschungen ergeben, dass in der Familie längst nicht alles so idyllisch ist, wie es den Anschein hatte: Samuel Kents erste Ehefrau zeigte schon früh Anzeichen von Wahnsinn, gebar ihm dennoch Jahr für Jahr neue Kinder, von denen die meisten im Säuglingsalter starben. Schließlich stellte er eine junge, hübsche Gouvernante ein, die sich um die überlebenden Kinder kümmerte und schon bald Mr. Kents Geliebte wurde. Diese Konstellation - die wahnsinnige Frau im gleichen Haus wie die Gouvernante, die die neue Liebe geworden ist - erinnerte stark an das damals gerade erschienene Werk "Jane Eyre" von Charlotte Bronte und sorgte für Häme und Kritik in der Nachbarschaft, weshalb die Familie mehrfach umzog. Schließlich starb die erste Mrs. Kent und die einstige Gouvernante wurde offiziell die zweite Ehefrau und gebar wiederum eigene Kinder.

Damit nicht genug, gab es Gerüchte, dass Edward, der mittlerweile verstorbene Sohn aus erster Ehe, der eigentliche Vater zweier seiner offiziellen Geschwister gewesen sei, er habe also im jungen Alter eine Affäre mit seiner Stiefmutter gehabt. Dies ist zwar unbestätigt, offenkundig war aber wohl eine gewisse Kluft zwischen den Kindern aus erster Ehe und denen aus zweiter Ehe, was konkret bedeutet: Vor allem der kleine Saville und seine noch jüngere Schwester Eveline waren die Lieblinge der Eltern und es scheint denkbar, dass einer der älteren Geschwister einen unverarbeiteten Hass auf Saville in sich trug. Eine andere mögliche Theorie ist Affäre zwischen Samuel Kent und einem Dienstmädchen, eine ähnliche Konstellation wie in seiner ersten Ehe also - und möglicherweise hat der kleine Saville ein solche Beobachtung gemacht und musste ausgeschaltet werden, da allen bekannt war, dass er seiner Mutter alles zutrug, was ihm auffiel. Akribisch beschreibt Kate Summerscale den genauen Zeitablauf und das Fortschreiten der Ermittlungen. Wer hinter der Tat steckte, erfährt der Leser auch erst recht spät und kann so wie bei einem Kriminalroman ein wenig miträtseln und seine eigenen Schlüsse ziehen. Zur besseren Übersicht über all die Personen gibt es zu Anfang eine Auflistung aller Mitwirkenden mit Namen und Alter, schön geordnet nach ihrer Zugehörigkeit, ob es Familienmitglieder, Bedienstete, Ermittler oder Dorfbewohner sind.

Diese minutiöse Beschreibung ist lobenswert, zumal das Buch trotzdem sich nie trocken oder wie eine bloße Auflistung der Fakten liest, vor allem wird stets deutlich, ob es sich um unbestreitbare Fakten handelt oder die Autorin Spekulationen wiedergibt, die beispielsweise Dorfbewohner oder Dienstboten äußerten. Knapp 350 Fußnoten, die im Anhang erläutert werden, bezeugen die äußerst sorgfältige Recherche, die Autorin listet auch viele weitere Quellen zu diesem Fall auf. Dazu ergänzen Fotografien von Familienmitgliedern und anderen Beteiligten sowie Fotos und Grundrisse des Hauses die Forschungsarbeit. Diese Akribie wird aber nicht von jedem Leser geschätzt werden, beispielsweise wird bei dem Zeugen, der die Leiche des Kindes fand, ausführlich über mehrere Zeilen zitiert, wie eine Zeitung sein Aussehen beschrieb - der Vollständigkeit halber ist es interessant, nur ist es manch einem Leser vielleicht zu viel der Information.

Zum anderen dürfen keine falsche Erwartungen vorangestellt werden: Das Buch dreht sich nicht nur um den konkreten Fall, sondern es ist auch eine Darstellung eben jenes Mr. Whicher. Über Jonathan oder, wie er genannt wurde, Jack Whicher gibt es kaum Material zu seinem Privatleben und es sind keine existierenden Fotos bekannt, aber Kate Summerscale beleuchtet einige seiner wichtigsten und symptomatischsten Fälle vor dem Fall von Road Hill House. Gleichzeitig informiert sie dadurch über die Anfänge der Kriminalistik, zum ersten Mal wurde eine systematische Polizeiarbeit etabliert und parallel dazu entstand auch die Kriminalgeschichte in der Literatur und berühmte Polizisten waren ein wenig die Popstars ihrer Zeit. Das alles ist hochinteressant und zugleich leicht verständlich erläutert, aber natürlich führt es erst einmal von den konkreten Ermittlungen von Road Hill House weg und kann die Leser langweilen, die sich eben nur für jene Ereignisse interessieren. Einmal gibt es zudem eine irritierende Stelle: Wie nebenbei wird nach der Beerdigung erwähnt, dass Mrs. Kent nach der Aussage des Arztes Dr. Parsons ihn bat, Constance für verrückt erklären zu lassen. Danach gibt es einen neuen Absatz und diese Aussage wird erst viel später noch einmal aufgegriffen und näher erklärt und sorgt damit erst einmal für Verwirrung und Unverständnis.

Fazit:


Ein höchst reizvolles und informatives Sachbuch über einen viktorianischen Kindermord, der bis heute populär ist. Sehr fundiert geschrieben, mit vielen zusätzlichen Informationen zum viktorianischen Leben und der Entwicklung der Kriminalistik.

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