14. Juni 2012

Geheimnisvolles Vermächtnis - Mary Hooper

Produktdetails:

Ausgab: 2010
Seiten: 384
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Die Autorin:

Mary Hooper wurde in London geboren und fing an zu schreiben, als ihre Kinder noch klein waren. Mittlerweile hat sie zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. Besonders populär sind ihre historischen Jugendromane, die im England der vorigen Jahrhunderte spielen wie die Zuckermacher-Trilogie und die Zauberer-Trilogie.

Inhalt:

London, 1861: Die fünfzehnjährige Grace und ihre Schwester Lily sind Waisen. Lily ist zwar bereits siebzehn, aber geistig auf der Stufe eines Kindes und kann nur selten allein gelassen werden. Nachdem Grace im Arbeiterhaus vergewaltigt wurde, leben die beiden in einer spartanischen Unterkunft im Armenviertel und halten sich mit dem Verkauf von Kressebündeln über Wasser.

Nachdem Grace ihr Kind aus der Vergewaltigung tot zur Welt gebracht hat, trifft sie auf dem Friedhof zufällig den jungen Anwaltsgehilfen James Solane. James möchte dem schüchternen Mädchen gern helfen und gibt ihr seine Karte. Wenig später verlieren Grace und Lily auch noch ihre Unterkunft und sitzen auf der Straße. In der Not wendet sich Grace an das Bestattungsinstitut Unwin und bekommt Arbeit als Sargbegleiterin. Die linkische Lily allerdings wird für einfache Arbeiten als Dienstmädchen angestellt.

Was Grace nicht ahnt: In einer Zeitungsannonce werden Lily und die verstorbene Mutter als Erbinnen eines großen Vermögens gesucht. Die Cousins Unwin haben es auf das Geld abgesehen und die Mädchen mit diesem Wissen eingestellt. Grace soll beizeiten beseitigt und die einfältige Lily von ihnen adoptiert werden, damit sie an das Vermögen gelangen. Als Lily plötzlich verschwindet, sucht Grace verzweifelt Hilfe bei James Solane ...

Bewertung:

Mary Hooper ist spezialisiert auf Jugendromane im historischen England, die sich aber auch von Erwachsenen lesen lassen. Mit "Geheimnisvolles Vermächtnis" ist ihr ein unterhaltsamer Roman gelungen, der Leser in das abenteuerliche London versetzt, wie man es aus den Büchern von Charles Dickens kennt: Verschlungene Gassen, Elendsviertel, Bettler und Betrüger, Spelunken, Pferdekutschen, Straßenjungen, Trickdiebe, Gaukler und Waisenkinder bevölkern den Roman und zaubern ein reizvolles Flair, das Einblicke in die unterschiedlichen Leben der Armen und Reichen gewährt.

Mit Grace Parker gelingt Mary Hooper das Porträt eines sympathischen Mädchens an der Schwelle zur jungen Frau. Äußerlich jünger wirkend, ist Grace durch die frühe Verantwortung für ihre Schwester ein sehr reifer Charakter, aber dennoch sehr realistisch geraten. Auch Grace hat Momente, in denen sie einfach nur weint und verzagt ist und in denen alle Kraft gerade erschöpft ist. Das macht sie authentisch und man leidet automatisch mit ihr mit. Die naive Lily erinnert an ein etwa sechsjähriges Kind. Sie liebt ihre Schwester sehr und ist meist bemüht, alles richtig zu machen. Sie spricht aber oft Dinge vorschnell aus, stößt ihre Umwelt vor den Kopf und ihre Denkweise ist häufig etwas verquer und dadurch sorgt sie für einige lustige Momente. James Solane ist etwas blasser geraten, allerdings kommt er erst spät so richtig ins Spiel, er ist ein typischer anständiger junger Mann mit hehren Absichten, bei dem man instinktiv hofft, dass er Grace nicht nur in seiner Rolle als Anwaltsgehilfe beistehen wird. Die Unwins sind geradezu Karikaturen von Bösewichtern, nach außen hin wohltätig und hilfsbereit, insgeheim aber nur an Profit interessiert. George Unwin führt ein Bestattungsinstitut und ist stets darauf bedacht, seinen Kunden die teuerste Variante zu verkaufen, indem er ihnen einredet, dass sie nur so dem Verstorbenen Ehre erweisen könnten. Sein Cousin Sylvester führt ein Trauerkleidungskaufhaus, in dem vom Hut bis zur Unterwäsche die passende Trauerkleidung zu erstehen ist. Georges Ehefrau und die verwöhnte Tochter Charlotte vervollständigen diese unselige Familie, die in der Suche nach der Erbinnen ein sensationelles Geschäft wittern.

Die Handlung ist sehr spannend und keine Seite ist überflüssig. Es geht um den täglichen Überlebenskampf der beiden Schwestern, Lilys Verschwinden, Graces verzweifelte Suche nach ihr und den teuflischen Plan der Unwins, nachdem sie schließlich Charlotte als leibliche Erbin ausgeben wollen. Das historische London wird vor den Augen des Lesers lebendig, nicht beschönigt und gleichzeitig niemals trocken. Sehr schön sind kleine Episoden, in denen beispielsweise Grace einen Blick auf Königin Victoria und ihren Prinzgemahl Albert werfen kann, der bald darauf verstirbt sowie ein Besuch Charles Dickens im Trauerbekleidungskaufhaus. Zudem gibt es hinten noch ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen und mehrere kurze Kapitel, in denen Mary Hooper die Hintergründe zu einigen wichtigen Themen wie der Trauer im Viktorianischen Zeitalter und zu Königin Victoria gibt. Leser ab etwa zwölf Jahren erfahren hier ein wenig über das Leben im 19. Jahrhundert, ohne von Fakten erschlagen zu werden und bekommen gleichzeitig eine abenteuerliche Geschichte mit dichter Atmosphäre präsentiert.

Zu bemängeln gibt es daher nur sehr wenig. Etwas ungünstig ist vielleicht, dass der Leser nicht sofort erfährt, wie alt Lily ist, denn nach den ersten Schilderungen ihres Verhaltens glaubt man ein kleines Mädchen vor sich zu haben - erst als Grace sich zum ersten Mal mit James unterhält, wird man eingeweiht, dass sie etwas zurückgeblieben ist. Geschickter wäre auch gewesen, George Unwin nicht rein zufällig von Grace Identität erfahren zu lassen, nämlich indem im Vorbeigehen ihren Namen sagen hört - denn so beruht alles folgende auf diesem kurzen Zufall, was ein bisschen zu simpel wirkt. Generell löst sich manches Problem aus Sicht eines erwachsenen Lesers ein wenig zu leicht, aber das ist für einen Jugendroman, abgesehen von dieser einen Szene, in Ordnung. Am Ende gibt es noch eine kleine Pointe, die Grace überrascht - der Leser hat dies allerdings durch eine Andeutung schon viele Seiten vorher geahnt und ist daher sehr viel weniger verblüfft.

Fazit:

Ein überdurchschnittlicher Jugendroman, der auch Erwachsene begeistern kann, der im London des 19. Jahrhunderts spielt. Die Handlung fesselt in bester Charles-Dickens-Manier mit gelungenen Charakteren und einer dichten Atmosphäre. Ideal für Leser ab zwölf Jahren.

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