1. Juli 2012

Das Gesicht des Fremden - Anne Perry

Produktinfos:

Ausgabe: 1991
Seiten: 352
Amazon
* * * * *

Die Autorin:

Anne Perry wurde 1938 als Juliet Hume in London geboren. 1954 beging sie gemeinsam mit ihrer besten Freundin einen Verzweiflungsmord an deren Mutter, der ihnen eine mehrjährige Haftstrafe einbrachte. Der Fall wurde als "Heavenly Creatures" verfilmt. Nach ihrer Entlassung nahm Perry ihren heutigen Namen an und begann in den sechziger Jahren zu schreiben. 1979 veröffentlichte sie mit "The Cater Street Hangman" ihren ersten Roman. Seither hat sie Dutzende von Büchern in mehreren Reihen herausgebracht. Am bekanntesten sind ihre Inspektor Pitt- und Inspektor-Monk-Romane, die jeweils im viktorianischen London spielen.

Inhalt:

London, Mitte des 19. Jahrhunderts: William Monk erwacht nach einem Kutschunfall im Krankenhaus ohne jede Erinnerung an sein früheres Leben. Verblüfft erfährt er, dass er Polizeiinspektor ist und lässt sich seine Amnesie nicht anmerken. Auch in den Wochen nach dem Unfall kommen seine Erinnerungen wer er ist und was er bisher erlebt hat nicht wieder.

Sobald er körperlich wieder gesund ist, wird er auf einen brisanten Fall angesetzt. Der allseits beliebte und angesehene Veteran Major Jocelin Grey wird erschlagen in seiner Wohnung aufgefunden. Weder Geld noch Wertgegenstände fehlen, alles deutet auf ein persönliches Motiv hin. Monk ermittelt in Greys adliger Familie, ohne recht vorwärts zu kommen.

Ihm zur Seite steht der junge Ermittler Evan, aber ansonsten scheint Monk keine Freunde zu haben. Vor allem sein Vorgesetzter Runcorn scheint ihn aus unbekannten Gründen zu hassen. Immer schwieriger wird es für Monk, seine Amnesie zu verbergen und sinnvolle Ermittlungen durchzuführen. Jede falsche Verdächtigung in Greys adligen Kreisen könnte seinen Ruin bedeuten. Eine Hilfe ist aber die resolute Krankenschwester Hester Latterly, die gerade vom Krimkrieg heimgekehrt ist ...

Bewertung:


Anne Perry kennt sich aus mit viktorianischen Krimis, bekannt ist sie schließlich vor allem für ihre Inspektor-Pitt-Reihe, in der er zusammen mit seiner Frau Charlotte ermittelt. "Das Gesicht des Fremden" ist der erste Teil der William-Monk-Reihe, in der alles ein bisschen düsterer zugeht. Das London des 19. Jahrhunderts ist ein wunderbares Setting für Kriminalfälle. Die Autorin versteht es, eine eindringliche Atmosphäre zu kreieren. Sie entführt den Leser wohl in die vornehmen Salons der höheren Gesellschaft als auch in die dreckigen, gefährlichen Gassen, in der sich die Unterwelt herumtreibt. Ohne plakativ zu werden, zeigt sie die teils elenden Umstände der armen Bewohner Londons, ebenso wie die ungeschönten Schilderungen von Kriegsszenen.

Der Fall an sich ist solide und recht spannend mit einigen verdächtigen Personen. Zunächst erscheint es rätselhaft, warum der beliebte Major Grey so grausam und offenbar gezielt ermordet wurde, denn immer wieder betonen seine Mitmenschen seine leutselige, charmante Art. Dann aber kristallisieren sich langsam aber sicher mögliche Motive heraus: Mit seiner Schwägerin Rosemary war er eine Weile verbandelt, ehe sie seinen Bruder heiraten musste, ihr Kind soll ihm allerdings auffallend ähnlich sehen. Seine Mutter, Lady Fabia, vergöttert ihn auch nach seinem Tod noch und auch wenn sie ihre beiden anderen Söhne liebt, ist offensichtlich, dass sie ihm nie das Wasser reichen konnten. Monk ahnt, dass der Täter in Greys Familie zu finden sein könnte, aber die Ermittlungen sind heikel, denn eine falsche Verhaftung wäre in diesen Kreisen eine Katastrophe. Eine weitere Spur führt in Greys Geschäftskreise,. denn er gab stets deutlich mehr Geld aus als er durch seine häusliche Unterstützung gehabt haben dürfte. Der Mörder ist nicht leicht zu erraten, auch wenn nicht zu viele Personen in Betracht kommen und man vielleicht schon etwas eher als geplant die Hintergründe durchschaut.

Das eigentlich Gelungene an dem Fall ist aber mit Sicherheit Monks geheimnisvoller Charakter. Der Leser rätselt gemeinsam mit ihm, was in seiner Vergangenheit alles geschehen ist. Für Spannung ist durchgehend gesorgt, da Monk immer wieder Gefahr läuft, sich zu verraten und seinen Gedächtnisverlust zu offenbaren, der ihn wohl in den Ruin stürzen würde. Ganz selten blitzen mal Erinnerungen bei Monk auf, die mal für Erleichterung und mal für Entsetzen sorgen. Interessant ist an seiner Figur vor allem, dass man zwar mit ihm fühlt und ihn grundsätzlich sympathisch findet, man aber immer vorsichtig dabei ist, da man zu wenig über ihn weiß. William Monk ist eine gelungene und vor allem originelle Hauptfigur, die zu entdecken Spaß macht. Etwa nach einem Drittel der Handlung kommt Hester Latterly ins Spiel. Für ihre Zeit ist Hester eine ungewöhnlich emanzipierte Frau, die große Dienste auf den Schauplätzen des Krimkrieges geleistet hat. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen spricht sie ihre Gedanken meist offen aus und geht damit oft das Risiko ein, jemanden vor den Kopf zu stoßen oder sich unbeliebt zu machen. Sie und Monk sind sich anfangs überhaupt nicht grün, was sich erst allmählich etwas ändert und zumindest in diesem Band noch nicht zu einer engen Freundschaft oder Beziehung führt, aber gerade diese langsame Entwicklung ist reizvoll zu verfolgen. Reizvolle Nebenfiguren sind auch Hesters Schwägerin Imogen, zu der sich Monk unerklärlich hingezogen führt sowie die ältliche, sehr direkte Lady Callandra mit ihrem Sinn für Humor.

Schwächen gibt es in diesem Band wenige. Allerdings geht der Kriminalfall in Monks Grübeleien über die eigene Identität manchmal fast ein wenig unter und ist phasenweise nur Nebenschauplatz. Zudem beantwortet das Ende nicht alle Fragen. Vor allem bezüglich Monks Vergangenheit, seinen Unfall und seine Herkunft darf man keine detaillierten Erkenntnisse erwarten; obwohl der Band durchaus für sich allein steht, wird man fast gezwungen auch die Nachfolger zu lesen, denn zu sehr werden hier die weiteren Ereignisse bloß angerissen.

Fazit:


Ein historisch interessanter Krimi aus dem viktorianischen London mit einer reizvollen Hauptfigur. Der Krimiteil hat seine Längen und ist nicht besonders spektakulär, aber Charaktere und Atmosphäre gleichen das wieder aus.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.