24. Juli 2014

Benjamin Blümchen - Die kleinen Kätzchen

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Inhalt:

Benjamin findet im Gebüsch vor seinem Elefantenhaus ein kleines, schlafendes rot getigertes Kätzchen. Otto, Stella und Karla kommen dazu und sind auch ganz begeistert von dem süßen Findling. Sie nennen das Kätzchen spontan "Maunz" und wollen seinen Besitzer finden - vielleicht hat Herr Tierlieb eine Ahnung, woher die Katze stammen könnte.

Auf dem Weg zum Zoodirektor treffen sie James, den Butler von Baron von Zwiebelschreck. James sucht die Katze seiner Schwester Josefine. Er hat die Katze in Pflege genommen, und sie ist weggelaufen. Leider handelt es sich bei Maunz nicht um das gesuchte Tier - die gesuchte Katze namens "Sphinx" ist deutlich größer, fülliger und schwarz. Natürlich wollen Benjamin und seine Freunde auch nach Sphinx Ausschau halten.

Mit Hilfe von Herrn Tierlieb und Wärter Karl wird Maunz erst einmal versorgt. Am nächsten Tag geht die Suche nach Maunz' Besitzern und seiner Katzenfamilie weiter. Dabei stellen die Freunde fest, dass ein Katzenbaby auch jede Menge Unsinn anstellt. Aber wo mögen Maunz' Familie und die vermisste Sphinx wohl sein ...?

Bewertung:


Es ist kein Geheimnis, dass die Benjamin-Blümchen-Reihe etwa seit den späten Neunzigerfolgen sich zunehmend an (noch) jüngere Hörer wendet und die Handlungen sich recht simpel gestalten. Signifikant hierfür ist etwa das Hinzutreten von Stella als neue Hauptfigur ab Folge 100 - Ottos neue Klassenkameradin ist recht vorlaut und neckt Benjamin gerne, der im Gegenzug noch naiver als früher gestaltet ist und oft von Otto und Stella belehrt wird. Benjamin wird obendrein immer anthropomorpher dargestellt, Tiere werden oft verkitscht, sowohl die Zootiere als auch Haustiere.

Diese Kritikpunkte treffen auch für diese Folge zu. Benjamin wirkt hier dümmlicher als noch vor einigen Jahren, muss sich recht viel von anderen erklären lassen. Auf diese Weise sollen wohl Kinder gewisse Informationen erhalten, doch früher wurde dies geschickter gelöst: In alten Folgen konnte Benjamin durchaus öfter sein Wissen unter Beweis stellen und beispielsweise Otto Dinge über die Seefahrt erklären. Natürlich neigte Benjamin schon immer zur Naivität, geriet aber nicht ständig in die Rolle des Unwissenden. Dazu kommt, dass Stella wieder einmal zu vorlaut agiert, indem sie Benjamin scherzhaft vorwirft, er würde seine Zeit nur mit Schlafen und Essen verbringen. Das Kätzchen wird leider wieder einmal, wie so viele andere Tiere in der Serie, von einem menschlichen Sprecher artikuliert, und das Miauen klingt dementsprechend unecht und übertrieben. Benjamin wird ebenfalls noch mehr vermenschlicht als früher: Nicht nur, dass er einen Schlafanzug trägt (Kleidung wurde auch früher hin und wieder schon erwähnt), es geht auch keine Tür kaputt, wenn er in Herrn Tierliebs Haus tritt (ein Running Gag der alten Folgen), und er schläft in einem Bett statt wie früher in einem Heuhaufen.

Die Handlung der Folge ist zudem recht spannungsarm, allein die Suche nach Sphinx und nach Maunz' Familie versteht sie nicht wirklich auszufüllen. Eine vergleichbare Folge, in der dem Hörer mehr geboten wurde, ist "Benjamin und der kleine Hund". Hier wie dort wird ein Hund bzw. eine Katze gefunden und nach dem Besitzer gesucht - in der Hundefolge allerdings werden Kinder noch mehrere Lehren mit auf den Weg gegeben, etwa was Verantwortungsbewusstsein für Tiere angeht, und es wird das Thema Eifersucht angesprochen, dagegen fällt diese Folge vergleichsweise ab.

Nützliche Informationen gibt es hier dennoch zu finden: Kinder erfahren zumindest ein paar Dinge über Katzen. So wird erklärt, dass es sich bei Katzen um besonders reinliche Tiere handelt und dass die "Katzenwäsche" demnach alles andere als flüchtig ist, dass sie spezielle Milch brauchen und keine Kuhmilch trinken sollten, dass Kätzinnen mehrere Jungen werfen und wie die Mutter ihre Katzenwelpen trägt. Es wird auch darauf hingewiesen, was Katzen alles anstellen und dass Kätzchen gerne ihre Krallen austesten - für Kinder, die sich ein Katzenkind wünschen (oder besser zwei - Katzen sind generell keine Einzelgänger), ist es gut, dass hier auch auf die Schwierigkeiten hingewiesen wird, die ein Katzenkind mit sich bringt. Ein Lapsus passierte hier allerdings bei der Genetik - die Fellfarben können sich bei Katzen nicht so vererben, wie es hier den Anschein hat.

Amüsant ist das Hörspiel teilweise auch, etwa wenn Maunz auf dem Klavier herumtapst und Karla entzückt "Ein kleiner Rubinstein!" ausruft. Zudem ist Butler James eine recht sympathische Nebenrolle, auch wenn das Butlerklischee durch seine ausgesprochen gezierte Sprechweise etwas zu sehr auf die Spitze getrieben wird.

Fazit:


Eine durchschnittliche Folge, die Kindern nützliche Informationen zu Katzen vermittelt und ein paar lustige Momente hat sowie solide Unterhaltung bietet. Zu den Schwachpunkten gehören der geringe Spannungsfaktor und Benjamins teils zu einfältige Darstellung.

Sprechernamen:

Benjamin Blümchen: J. Kluckert
Otto: K. Primel
Stella: M. Bierstedt
Karla Kolumna: G. Fritsch
Herr Tierlieb: R. Evers
Karl: T. Hagen
Butler James: F. Muth
Josefine: K. Buchholz
Erzähler: G. Schoß

18. Juli 2014

William Wymark Jacobs - Die Affenpfote

Produktinfos:

Ausgabe: 2014
Länge: 47 Minuten
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Der Autor:

Der Brite William Wymark Jacobs, 1863-1943, ist vor allem für die Kurzgeschichte "Die Affenpfote" bekannt. Daneben veröffentlichte er noch eine Reihe weiterer Erzählungen und Romane, die häufig unheimlicher und makabrer Natur sind und im maritimen Milieu spielen.

Inhalt:

England 1901: Das ältere Ehepaar James und Maggie White und ihr Sohn Herbert erwarten an einem stürmischen und verregneten Abend den Besuch von Sergeant-Major Morris, einem alten Freund von James White, der viele Jahre in Indien verbracht hat. Der alte Morris erzählt ihnen viele spannende Geschichten aus Indien.

Eine der Geschichten dreht sich um eine mumifizierte Affenpfote mit angeblich magischen Kräften. Drei Wünsche soll sie ihrem jeweiligen Besitzer erfüllen, doch der Major sagt, dass sie ihm nur Unglück brachten. Morris wirft die Pfote ins Feuer, damit sie niemandem mehr Schaden anrichtet. Vater und Sohn retten sie jedoch aus den Flammen und ignorieren die Warnungen des Majors.

Am nächsten Tag halten die Whites die Geschichte mittlerweile für Humbug. Mehr aus Spaß spricht James White dennoch einen Wunsch aus: 200 Pfund, die das Haus schuldenfrei machen sollen. Am Nachmittag geht dieser Wunsch tatsächlich in Erfüllung - jedoch auf eine ungeahnt grauenvolle Weise. Aus Verzweiflung sprechen die Whites den nächsten Wunsch aus, der alles noch schlimmer macht ...

Bewertung:


Der Name William Wymark Jacobs ist heute nicht mehr vielen Lesern ein Begriff, der Mythos um die Affenpfote ist dagegen populärer als ihr Autor. Titania Medien hat sich hier wieder einmal eines wunderbaren Gruselklassikers angenommen, der zu den besten und beklemmendsten britischen Geschichten des Genres gehört. Das Hörspiel hält sich ausgesprochen eng an die Vorlage und vermag es, die intensive Atmosphäre der Geschichte gut einzufangen.

Die Charaktere werden indes in der Hörspielversion sogar ausführlicher dargestellt. Die Harmonie innerhalb der kleinen Familie ist deutlich spürbar. Herbert ist der einzige Sohn des älteren Ehepaars, alle anderen Kinder starben früh. Umso glücklicher waren die Whites, als ihnen unverhofft doch noch ein Sohn geschenkt wurde. Vor allem Maggie White bemuttert den erwachsenen Herbert intensiv - sie achtet darauf, dass er morgens genug zum Frühstück isst, reicht ihm zum Abschied Jacke, Schal und Mütze und hat immer rechtzeitig bei seiner Rückkehr das Abendbrot auf dem Tisch stehen. James und Maggie White machen innerhalb der Handlung jeweils eine kleine Verhaltenswandlung durch: Zunächst ist James derjenige, der von der Affenpfote fasziniert ist und der sie unbedingt behalten möchte, unterstützt durch Herbert. Maggie dagegen ist die Pfote unheimlich, und sie möchte sie nicht im Haus sehen. Nachdem der erste Wunsch so verhängnisvoll eingelöst wurde, sind die Rollen nunmehr vertauscht: James White möchte die Pfote am liebsten wegwerfen, seine vor Kummer fast wahnsinnige Frau dagegen drängt ihn zum zweiten Wunsch. Die Verzweiflung wird überzeugend eingefangen und macht das Hörspiel zu einem der bewegendsten der Reihe.

Der Grusel setzt spät ein, ist aber dennoch effektiv. Es ist zugeben keine der unheimlichsten Folgen, dafür gehört sie zu den emotional anrührendsten. Sowohl die Reaktionen von James White als auch von seiner Frau sind nachvollziehbar, was nicht nur am Drehbuch, sondern natürlich auch an den exzellenten Sprechern liegt. Die markante, volltönende Stimme von Regina Lemnitz, mit der sie sonst Whoopie Goldberg oder Kathy Bates synchronisiert, passt zwar eigentlich eher zu resoluten Figuren statt zur häuslichen Maggie White. Lemnitz gelingt es jedoch bis auf eine Szene gut, sich auf diese Rolle einzustellen und sich in den entscheidenden Momenten zurückzunehmen. Harald Dietl überzeugt gleichfalls in der Rolle des Ehemanns, der den besonneneren Part des Paares darstellt. Hasso Zorns raue, bedächtige Stimme kam schon in anderen Gruselkabinett-Folgen als Erzähler zum Einsatz und passt wieder einmal gut in die ruhige Stimmung, die auf Action verzichtet.

Schwächen birgt das Hörspiel nur wenige. Der Anfang ist etwas zu langatmig gestaltet, auch wenn die Absicht dahinter klar ist - der Hörer soll sich einfühlen in die heimelige Atmosphäre der Whites und lauscht dem Gespräch von Vater und Sohn, die sich während eines Schachspiels liebevoll necken. Dabei wird jedoch ein bisschen zu weit ausgeholt, der Besuch des Majors könnte ruhig früher eintreffen. Als der Major seine Geschichte beginnt und die Affenpfote erwähnt, gibt Mrs. White einen irritierten Laut von sich, der etwas übertrieben klingt. Ebenfalls übertrieben ist ihr heftiges Erschaudern während der Geschichte; der Versuch, die unheilvolle Stimmung zu unterstützen, wird hier ein wenig zu künstlich inszeniert. Eine kleine Schwachstelle ist bereits in der Vorlage verankert: Es ist nicht ganz klar, weshalb der Major überhaupt die Affenpfote präsentiert, wenn er doch nicht möchte, dass sie jemals wieder zum Einsatz kommt. Es ist schließlich alles andere als überraschend, dass sich James und Herbert White für die magische Pfote interessieren. In der Vorlage existiert nur ein wirklicher Gruselmoment, so folglich auch hier in der Adaption - der ist allerdings in der Kurzgeschichte intensiver dargestellt und hätte hier noch effektiver in Szene gesetzt werden.

Fazit:

Ein atmosphärisch dichtes Hörspiel, das die Vorlage insgesamt überzeugend umsetzt. Die Handlung verläuft ruhig und setzt vor allem auf Melancholie und Beklemmung. Die Sprecher sind gut besetzt, die Mängel fallen gering aus. Nicht die beste Folge der Reihe, aber unterm Strich sehr hörenswert.

Sprechernamen:


Harald Dietl: James White
Regina Lemnitz: Maggie White
Max Felder: Herbert White
Erich Ludwig: Sergeant-Major Morris
Johannes Steck: Bote von Herberts Arbeitgeber
Hasso Zorn: Erzähler

11. Juli 2014

... und das Eis bleibt stumm - Martin Selber

Produktinfos:

Ausgabe: 1955
Seiten: 351
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Der Autor:

Martin Selber, 1924-2006, betätigte sich nach dem Krieg in mehreren Berufen und lebte seit den fünfziger Jahren als Schriftsteller. Bekannt ist er vor allem für Heimatromane und Jugendbücher.

Inhalt:

England 1845: Der erfahrene britische Admiral Sir John Franklin bricht mit knapp 130 Mann zu einer der bedeutendsten Polarexpeditionen auf. Ziel ist die Erschließung der Nordwestpassage, die Handelsschiffen den kürzesten Weg nach Ostasien ermöglichen soll, die nördlich um Amerika führende Route zum Stillen Ozean. Obwohl Sir Franklin mit 59 Jahren von einigen Kritikern als zu alt empfunden wird, ist er von seinem Vorhaben überzeugt.

Am 19. Mai 1845 brechen die beiden Schiffe "Erebus" unter Admiral Sir John Franklin und Kapitän James Fitzjames und "Terror" unter Kapitän Francis Crozier auf. An Bord befinden sich Vorräte für mindestens fünf Jahre, zudem Waffen und Munition, um wilde Tiere zu erledigen. Die Mannschaft ist frohen Mutes, auch wenn es unter den Männern kleine Querelen gibt. Während Sir Franklin und Kapitän Crozier Souveränität vermitteln, sorgen Störenfriede wie der hinterhältige Matrose John Black für Unruhen.

1845/46 überwintern die Schiffe vor der Beechey-Insel in der kanadischen Arktis und dringen im Sommer 1846 bis zur King-William-Insel vor, wo hartnäckiges Packeis sie festhält. Der Sommer 1847 entpuppt sich als deutlich kälter als erwartet, sodass die Schiffe an der Weiterfahrt gehindert werden. Langsam breitet sich Besorgnis aus. Zudem sind große Teile des Konservenvorrats verdorben und ungenießbar, wilde Tiere werden aufgrund mangelnder Ausrüstung und der außergewöhnlichen Kälte nur selten erlegt. Als auch 1848 die Weiterfahrt unmöglich ist, ahnen die Expeditionsteilnehmer, dass sie auf eine Katastrophe zusteuern ...

Bewertung:

"Wißt ihr", sagte der Matrose William Green, "mitunter habe ich einen Alptraum: Hundert Männer ziehen in einem solchen Sturm und in solcher Finsternis über das Eis nach Süden. Da ist keine Hütte und kein Schiff, kein wärmendes Feuer, vielleicht nicht einmal ein Glas Rum - da ist nur Sturm und Nacht und Hoffnungslosigkeit."

Es war die bis dahin bestausgerüstete Polarexpedition, die Sir John Franklin endgültig zum Helden der Arktis und die Nordwestpassage zum schnellsten Seeweg zu den Schätzen Indiens und Chinas machen sollte. Stattdessen endete das spektakuläre Unternehmen in einer beispiellosen Katastrophe, die 129 Männer in den Tod führte. Martin Selbers Abenteuerroman gilt als erste literarische Umsetzung dieser Expedition, die Leseratten vor allem durch Dan Simmons' Terror bekannt geworden sein dürfte.

Der Autor hält sich grundsätzlich eng an die überlieferten Fakten, die freilich seit Erscheinen des Romans (1955) mittlerweile nochmals Ergänzungen erfahren haben. Grundsätzlich ist es eine Kombination aus mehreren Faktoren, die zum Scheitern der Expedition geführt haben; die Gewichtung der einzelnen Faktoren hingegen mag Raum für Spekulationen geben. Selber verarbeitet die außergewöhnlich kalten Temperaturen, die verdorbenen Konservendosen, den Skorbut durch Vitamin C-Mangel sowie falsche Entscheidungen vor allem seitens Admiral Sir Franklin.

Auf letzteren Punkt legt er seinen Fokus. Sir Franklin erscheint in der Rezeption durchaus als zwiespältige Gestalt. Auf der einen Seite hatte Franklin bereits bedeutende Reisen durch die Arktis unternommen und galt als erfahrener Polarexperte. Bei seinen Leuten nahm er den Status einer väterlichen Vorbildfigur ein; viele Briefe der Besatzung, die bei Grönland an das bis dahin begleitende Versorgungsschiff mitgegeben wurden, bezeugen das tiefe Vertrauen, das die Männer Franklin entgegen brachten und den Optimismus, den sie aus seiner Leitung schöpften. Auf der anderen Seite war Sir Franklin mit 59 Jahren außergewöhnlich alt für eine solch gefahrenvolle und anspruchsvolle Reise und immerhin seit bereits 17 Jahren nicht mehr in der Arktis gewesen. Des Weiteren missachtete Franklin offenbar die Anweisung, unterwegs möglichst viele Nachrichten zu deponieren, die Suchmannschaften Hinweise auf seine Route hätte liefern können.

Diesen letzten Aspekt rückt Martin Selber prominent in den Mittelpunkt. Sein Sir John Franklin ist ein erfahrener, aber auch eigensinniger Mann, der sich und der Welt noch einmal seine außerordentlichen Fähigkeiten beweisen will - und das um jeden Preis. Dabei wird dem Leser früh deutlich gemacht, dass Franklin nicht bereit ist, irgendwelche Verzögerungen in Kauf zu nehmen - und sei es auch auf Kosten der Sicherheit. Die Anweisung, regelmäßig Nachrichten zu hinterlassen, ignoriert er bewusst: Jede Rückversicherung signalisiere seiner Mannschaft Unsicherheit, die hinderlich auf der Expedition wäre. Franklin erscheint es dagegen richtig, alle Bande zu Großbritannien abzubrechen und mit dem Verzicht auf hinweisgebende Nachrichten seiner Besatzung zu zeigen, dass keine Gefahr des Scheiterns besteht - und dass Nachrichten für Suchmannschaften daher unnötig seien. Franklin erscheint vor allem zu Beginn des Romans als recht kalter und erfolgsbesessener Charakter. Als der Erste Steuermann und Geograph Sergeant zu Franklins geplanter Route einwendet, er würde die Schiffe damit gefährden, entgegnet er: "Mein Gott, ja, die Schiffe! - Was liegt an den Schiffen, wenn ich nur die Durchfahrt finde."

Bei der Darstellung des erfolgsbesessenen Franklins, der sich bis zuletzt gegen gute Hinweise seiner Untergeben sperrt und erheblichen Anteil am Scheitern der Mission trägt, ist Martin Selber weiter gegangen, als es die Faktenlage bezeugt. Das betrifft insbesondere den Tod Sir Franklins, den die einzige erhaltene Nachricht der Expedition auf den 11. Juni 1847 datiert. Franklins Todesursache ist unbekannt - vielleicht war er den Strapazen einfach nicht mehr gewachsen, vielleicht war sein Körper durch eine Bleivergiftung durch die Konserven geschwächt. Martin Selber präsentiert hier eine ganz eigene Variante, die brisant ist und das von ihm geschaffene Franklin-Bild passend abrundet. Seine Interpretation ist legitim und es ist möglich, dass sich die Dinge tatsächlich so abspielten wie hier geschildert - doch sollte der Leser im Hinterkopf behalten, dass der wahre John Franklin nicht zwingend diesem Bild entspricht.

Im Nachwort erklärt der Autor, er "verzichtete von vornherein auf einen eigentlichen Helden und seinen Gegenspieler". Ganz richtig ist dies nicht, denn "Terror"-Kapitän Francis Crozier rückt hier doch sehr nah in die Position des Helden, der früh ahnt, dass Admiral Franklin falsche Entscheidungen trifft. Crozier war mit 49 Jahren nach Franklin der Älteste an Bord und wird nicht erst seit Michael Smith' einfühlsamer Biographie "Last Man Standing?" geradezu mythologisch überhöht. Wer sich näher mit Crozier befasst, der wird schnell eingenommen und fasziniert von diesem souveränen, ruhigen, erfahrenen, klugen Mann, der doch im Leben auch so viele Rückschläge erlitt (inklusive eines abgelehnten Heiratsantrags von Franklins Nichte Sophia).

Nach Franklins Tod übernahm er, wie die gefundene Nachricht bezeugt, die Leitung der Expedition und versuchte offenbar bis zum Schluss, seine Männer aus der weißen Hölle zu retten. Es gibt Hinweise, dass es sich bei einem der letzten Überlebenden, von dem die Inuit berichteten, um Crozier handelte, dem "last man standing", der dann wohl doch irgendwann vor den Strapazen der Arktis kapitulieren musste. Es ist leicht nachzuvollziehen, weshalb sowohl Martin Selber als auch Dan Simmons in ihren Romanen Francis Crozier zur zentralen Gestalt machten und ihm bis zum Schluss einen besonderen Platz in ihren Werken einräumten.

Interessanterweise gestalten Selber und Simmons noch eine weitere Figur sehr ähnlich, über die weitaus weniger überliefert ist, nämlich Eislotse Thomas Blanky. Martin Selber porträtiert ihn als humorvollen und gewitzten, manchmal etwas schnodderigen Matrosen, der sich besonders des Schiffsjungen Ben annimmt und später zu Croziers Vertrauten wird. Als Antagonist fungiert der Matrose John Black, eine typische hinterhältige Verräterfigur. Black gehört zu den Figuren, die der Autor für seine Geschichte hinzuerfunden hat. Bei Simmons übernimmt der Kalfaterersmaat Cornelius Hickey diese Rolle, mit dem Unterschied, dass Hickey tatsächlich zur Besatzung gehörte, über seinen wahren Charakter aber nichts bekannt ist. In moralischer Hinsicht ist es sicherlich angemessener, wie Martin Selber bei den unangenehmen Rollen auf fiktive Namen zurückzugreifen.

Eine weitere fiktive und sehr gelungene Figur ist der deutsche Rudergänger Karl Bauer, ein begabter, verschlossener junger Mann, dem aus Statusgründen die Ehe mit seiner großen Liebe Maria versagt geblieben ist. Aus Trotz entschloss er sich, Admiral Franklin ins Eis zu folgen, doch seine Gedanken schweifen immer wieder zu Maria, die wiederum in Deutschland verzweifelt auf eine Nachricht von ihm wartet. Angeregt wurde Martin Selber zu dieser Figur durch den Fund eines toten Besatzungsmitgliedes, das ein Bündel deutscher Briefe bei sich trug, die ihm offenbar so wichtig waren, dass er sich bis zum Schluss nicht von ihnen trennen wollte.

Auch wenn der Ausgang der Expedition bekannt ist, verfolgt man gebannt die Handlung und leidet mit den Figuren, die der Autor durchaus überzeugend zu Leben erweckt. Die Hintergründe der Expedition, die geographischen Gegebenheiten und der Schiffsalltag werden auch für Laien anschaulich und verständlich geschildert. Das Geschehen schaltet regelmäßig zwischen den beiden Schiffen hin und her sowie ab und zu nach London, um die dortigen Entwicklungen zu verfolgen. Herrschte anfangs noch große Euphorie und Vertrauen in Franklins Mission, schlich sich nach und nach Besorgnis ein, die jedoch von anderen Ereignissen überschattet wurde. Während sich etwa Franklins Ehefrau Lady Jane und der Polarexperte James Clark Ross um den Verblieb der Schiffe sorgten, war die britische Admiralität lange Zeit durch die irische Hungersnot, die Intervention in Portugal, den Krieg in Asien und die Finanzkrise abgelenkt. Vereinzelt wird zu den besorgten Angehörigen übergeblendet, die nur noch hoffen können, dass ihr Sohn oder Ehemann aus dem Eis nach Hause kehrt.

Zu den eher gering ausfallenden Schwächen des Romans gehört der Umgang mit dem Kannibalismus, den einige der Männer begingen, wie nach Inuitberichten und Untersuchungen der Knochen als erwiesen gilt. Die britischen Zeitgenossen konnten diese Tatsache lange Zeit nicht akzeptieren und hielten die Inuitberichte für Lügen. Der Autor bringt dieses Thema erst sehr spät in der Handlung auf und stellt das Handeln jener Männer negativ dar.

Das ist schade, verpasst er doch damit die Möglichkeit, für die Notlage der verzweifelten Überlebenden zu sensibilisieren. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Kannibalen unter den Überlebenden vorsätzlich ihre Kameraden töteten, um sie zu verzehren - vermutlich haben die Männer einfach aus existenzieller Not heraus an ihren durch Kälte und Krankheit verstorbenen Leidensgenossen gehandelt. Spätestens seit dem Anden-Absturz der uruguayischen Rugbymannschaft 1972 wird Kannibalismus in Notsituationen mit mehr Verständnis begegnet. Die Vorstellung mag abstoßend sein, doch sollte niemand für seinen Überlebensinstinkt verurteilt werden. Der Autor versäumt es hier, das Thema differenzierter zu behandeln, sondern bestätigt eher implizit die starre viktorianische Denkweise. Des Weiteren stört ab und zu der etwas pathetische Tonfall des Erzählers, der dem Roman bisweilen einen leicht angestaubten Charakter verleiht.

Fazit:


Ein insgesamt gelungener Abenteuerroman, der sich recht eng an die wahren Begebenheiten der Franklin-Expedition anlehnt. Spannung, dichte Atmosphäre und gut gestaltete Charaktere machen die Lektüre lohnenswert; die Schwächen halten sich demgegenüber in Grenzen.

7. Juli 2014

Benjamin Blümchen - Das fleißige Faultier

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Inhalt:

Benjamin besucht mit seinen Freunden Otto, Stella, Wärter Karl und Karla Kolumna eine Zirkusvorstellung, und sie amüsieren sich sehr, vor allem über die Affennummer. Kurz darauf erfahren die Freunde von Wärter Karl und Karla Kolumna, dass ein neues Tier im Zoo erwartet wird: ein Faultier aus Südamerika.

Der Zoo hat mal wieder Geldsorgen, und ein exotisches Tier wie ein Faultier soll zahlreiche Besucher anlocken. Da Herr Tierlieb für ein paar Wochen abwesend ist, vertritt ihn der sympathisch wirkende Herr Bärmann als Zoodirektor. Sie sind sehr aufgeregt, als die Transportkiste ankommt - doch zu ihrer Verblüffung ist sie leer. Offenbar wurde der Zoo betrogen und das Faultier nie verschickt. Vor allem Benjamin ist sehr traurig, denn jetzt wird der Zoo seine Geldsorgen behalten.

Doch kurz darauf haben alle wieder Grund zur Freude: Herrn Bärmann ist es gelungen, anderweitig ein Faultier zu beschaffen. Benjamin und seine Freunde stellen aber verwundert fest, dass sich das Faultier gar nicht arttypisch verhält. Stattdessen ist es äußerst flink und aktiv. Benjamin, Otto und Stella finden das merkwürdig ...

Bewertung:

Geldsorgen sind beim Neustädter Zoo nichts Neues. Meistens wird das Problem (kurzzeitig) dadurch gelöst, dass Benjamin mal wieder einen neuen Beruf annimmt und Geld verdient. Recht originell ist hier die Idee, dass ein neues Tier für mehr Besucher sorgen soll. Kinder erfahren hier ein paar wissenswerte Informationen über Faultiere - über ihre sehr eingeschränkten Aktivitäten, ihre Herkunft aus Südamerika und ihren Seltenheitswert. Generell wird auf dezente Art darauf aufmerksam gemacht, dass es viele bedrohte Tierarten gibt. Mit Herrn Bärmann wird eine Nebenfigur eingeführt, die vorübergehend den in Kur gefahrenen Herrn Tierlieb ersetzt. Herr Bärmann ist zweifellos ein sympathischer Charakter, wenngleich er über das Fehlen des eigentlichen Zoodirektors nicht hinwegtäuschen kann. Einen wunderbaren Auftritt hat mal wieder Karla Kolumna, die den neuen Zoodirektor in ihrer jovialen Art gleich mal "Bärmännchen" tauft. Beeindruckt konstatiert sie, dass er noch dynamischer sei als sie, und wirft ihm ein schmachtendes "Ein toller Kerl!" hinterher. Witzig ist auch ihr Dialog mit Stella, die sich verständnislos zeigt, dass ausgerechnet ein "hässliches Knäuel" wie ein Faultier für Furore sorgen soll. "Es kommt doch auf die inneren Werte an, auch bei Faultieren", entgegnet Karla empört - und da hat sie natürlich wieder einmal recht.

Leider war es das auch schon fast mit den positiven Aspekten dieser Folge. Spannung etwa sucht man hier fast vergeblich - selbst kleine Hörer dürften leicht durchschauen, weshalb sich das Faultier so ungewöhnlich verhält. Die Idee dahinter ist freilich nicht schlecht, aber die Umsetzung zu durchsichtig, die gestreuten Hinweise viel zu plakativ, als wolle man selbst Kindergartenkindern die Lösung nicht zu schwer machen. Eine nach wie vor recht überflüssige Figur ist Stella, Ottos Klassenkameradin und Freundin, die seit Folge 100 mit von der Partie ist. Stella ist zwar an sich nicht direkt unsympathisch, aber ihre vorlauten Spitzen gegenüber Benjamin, Karla oder Wärter Karl nerven eher, als dass sie witzig sind. Stella bringt kaum neue Impulse in die Serie hinein und lenkt unnötig von der engen Freundschaft zwischen Otto und Benjamin ab. Benjamin wiederum erscheint, wie so oft in den neueren Folgen, noch begriffsstutziger als früher, leider auf eine eher dümmliche als liebenswerte Art. Auch das Zirkusdasein von Tieren wird hier wieder einmal zu unproblematisch dargestellt. Beim Neustädter Zoo wird zumindest noch betont, wie groß die Gehege sind und dass die Tiere dort möglichst artgerecht gehalten werden; bei Zirkustieren ist das fraglich, wird in der Serie allerdings generell zu wenig hinterfragt (man denke dabei etwa an die Elefantendressur in "Benjamin verliebt sich").

Zu guter Letzt muss man sagen, dass es nicht sehr glaubwürdig wirkt, dass ausgerechnet ein Faultier als Besuchermagnet dargestellt wird. Natürlich sind es faszinierende Tiere, aber das sind letztlich alle Tierarten, wenn man sich erst einmal näher mit ihnen beschäftigt. Dass ein Faultier, das nun mal die meiste Zeit seines Lebens mit Herumhängen verbringt, dem Zoo die Kassen füllen soll, erscheint doch recht übertrieben, als habe man nicht gewusst, wie man ein Faultier anders in die Handlung integrieren könnte. Da hilft es auch nicht viel, dass Herr Bärmann erklärt, die meisten Leute wollten in erster Linie seltene Tiere sehen. In realen Zoos sind es nicht unbedingt die exotischen und seltenen Tiere, sondern eher die aktiven, die den Zuschauern viel Unterhaltung bieten, wie etwa Erdmännchen.

Fazit:

Eine allenfalls durchschnittliche Benjamin-Folge, die ein paar witzige Szenen und ein paar informative Passagen enthält. Der Spannungsfaktor fällt allerdings sehr gering aus, Stella nervt ein bisschen, insgesamt ist die Handlung zu vorhersehbar. Kann man als Benjamin-Fan hören, man verpasst aber nicht viel, wenn man es lässt.

Sprechernamen:

Benjamin Blümchen: J. Kluckert
Otto: K. Primel
Stella: M. Bierstedt
Karla Kolumna: G. Fritsch
Wärter Karl: T. Hagen
Herr Bärmann: S. Staudinger
Herr Toretti: P. Reinhardt
Erzähler: G. Schoß

1. Juli 2014

Das Fräulein von Scuderi - E.T.A. Hoffmann

Produktinfos:

Ausgabe: 1998 (1819)
Seiten: 128
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Der Autor:

Ernst Theodor Amadeus Hoffmann wurde 1776 geboren und starb 1822. Er studierte zunächst Jura und arbeitete als Referendar und Assessor. Dank seines musikalischen Talents brachte er es auch zum Kapellmeister, Theaterkomponist und Musiklehrer, daneben auch als Maler und Zeichner. Hoffmann zählt zu den bekanntesten und bedeutendsten Autoren der Romantik. Populäre Werke sind u.a. Die Elixiere des Teufels, Der Sandmann, Nußknacker und Mausekönig und Die Lebensansichten des Katers Murr.

Inhalt:

Paris im Jahr 1680: Unter der Regierung Königs Ludwig des XIV. sorgen zwei Mordserien für Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Zunächst werden eine Reihe von Giftmorden verübt. Der König setzt mit der "Chambre ardente" eine polizeiliche Sonderkommission ein, die mit aller Härte gegen Verdächtige vorgeht und neben Schuldigen auch Unschuldige hinrichten lässt. Auf die Giftmorde folgt eine Serie von Raubmorden. Die Opfer sind meist adlige Männer, die mit einem Schmuckstück auf dem Weg zu ihrer Geliebten sind. Die Männer werden erstochen oder niedergeschlagen, der Schmuck geraubt; die Polizei steht den Vorgängen machtlos gegenüber.

In dieser Zeit gehört das Fräulein von Scuderi, eine ältere Dame, zum Kreis der Hofdichter des Königs. Eines Nachts bringt ein Unbekannter der Scuderi ein Kästchen, das kostbaren Schmuck enthält - dem beiliegenden Brief nach offenbar ein Geschenk der Mörderbande. Es handelt sich um Schmuck des berühmten Goldschmiedes Cardillac, der als außergewöhnlicher Künstler, aber auch als schwieriger Mensch gilt: Nur ungern gibt er die angefertigten Schmuckstücke an seine Auftraggeber heraus, bisweilen wird er sogar beleidigend oder grob. Cardillac kann der Scuderi jedoch nicht sagen, für wen er ihren Schmuck ursprünglich anfertigte.

Monate später bittet ein Unbekannter die Scuderi dringend, den Schmuck sofort an Cardillac zurückzugeben. Als Scuderi den Goldschmied aufsuchen will, gerät sie in einen Tumult: Cardillac wurde auf der Straße erstochen, sein Geselle Oliver Brusson als mutmaßlicher Täter verhaftet. Oliviers Verlobte Madelon, zugleich Cardillac Tochter, beschwört gegenüber der Scuderi seine Unschuld. Instinktiv glaubt ihr das Fräulein und ermittelt auf eigene Faust ...

Bewertung:

Spannung, Dramatik, interessante Charaktere und mannigfaltige Deutungsansätze - dies alles präsentiert E.T.A, Hoffmanns Novelle, die häufig als erste Kriminal- bzw. Detektivgeschichte der Literatur gilt. Freilich liegen hier einige der wesentlichen Merkmale einer Detektivgeschichte vor: Der am Ende aufgeklärte Mord, die Verdächtigen, die nicht-polizeiliche Ermittlerin Scuderi.

Das Fräulein von Scuderi erinnert jedoch nur auf den ersten Blick an moderne Kolleginnen wie Miss Marple. Tatsächlich basieren ihre Erkenntnisse weniger auf Fakten als mehr auf Intuition. Die Scuderi ermittelt und kombiniert nicht mit kühlem Verstand wie ein Sherlock Holmes, sondern lässt sich von ihren Eindrücken und ihrem Herz leiten. Interessanterweise ist sie keine Erfindung des Autors: Mademoiselle de Scudéry, die das gesegnete Alter von 94 Jahren erreichte, war in der Tat eine Dichterin der Barockzeit, die galante Gesellschaftsromane verfasste, die über die Grenzen Frankreichs hinaus beliebt waren. Bei Hoffmann erscheint die Scuderi als charmante, ältere Dame, die das Herz auf dem rechten Fleck trägt und die schnell zur Verbündeten des Lesers wird. Noch reizvoller als die Scuderi ist ohne Zweifel der mysteriöse Goldschmied Cardillac - ein genialer Künstler, der im Umgang mit Menschen offenbar umso so größere Defizite besetzt. Die Scuderi scheint er zu verehren, ansonsten erscheint er als schwieriger Charakter, der für seine Kunst lebt.

Sein junger Gehilfe Olivier Brusson ist der Polizei der ideale Verdächtige: Der niedergestochene Cardillac wird in seinen Armen gefunden, Olivier trägt die Tatwaffe bei sich. Der Polizei gilt er nicht nur als Mörder Cardillacs, sondern auch die früheren Verbrechen werden ihm zur Last gelegt. Die Scuderi sieht sich vor einer schweren Aufgabe, es scheint kaum möglich, Olivier zu entlasten. In dieser Phase der Handlung erwarten den Leser einige unerwartete Enthüllungen und Wendungen; selbst die Scuderi wird mehrfach überrascht und gerät phasenweise ins Schwanken, wem sie glauben und trauen darf. Trotz der kriminalistischen Elemente eignet sich die Erzählung weniger zum Mitraten. Wer es liebt, durch logische Schlüsse dem Täter auf die Spur zu kommen, wird hier eventuell enttäuscht werden. Die Scuderi gelangt vor allem durch Eingebung und Geständnisse zur Wahrheit, statt in traditioneller Detektivmanier Puzzlestücke aneinanderzufügen. So ist es denn auch weniger eine Detektivgeschichte als eher eine Erzählung, die die Themen Kunst, Genie, Wahnsinn, Psychologie und Gesellschaft aufgreift und in kriminalistisches Gewand verpackt.

Wie so häufig bei Hoffmann erwächst die Angst nicht aus einem per se unheilvollen Setting, sondern aus dem bürgerlichen Alltag. Akribisch hat Hoffmann die Zeitumstände erforscht und Lokalkolorit eingebaut. Die Gift- und Raubmorde sind die eine Seite der Medaille, die die Bevölkerung das Fürchten lehrt, die inquisitorische "Chambre ardente" ist die andere: Justiz dient hier nicht mehr der Gerechtigkeit, sondern bildet eine eigenständige Gewalt- und Willkürherrschaft. Offiziell soll die "Chambre ardente" für Ordnung sorgen, tatsächlich arbeitet sie mit Foltermethoden und lässt Unschuldige sterben. Gesellschaftskritik ist E.T.A., Hoffmann nicht fremd, als Jurist war er mit dem preußischen Rechtsapparat vertraut und konnte dessen Schwächen in der Novelle verschleiert darstellen, indem er die Handlung zur Zeit des Absolutismus spielen ließ. "Das Fräulein von Scuderi" ist eine beliebte Schullektüre und das sicher zu Recht, lässt sich doch hier in vielerlei Hinsicht über die Charaktere, den historischen Hintergrund Hoffmanns und der Handlung sowie über die Gattungsfrage der Detektivgeschichte diskutieren.

Anzukreiden ist dem Werk der bisweilen zu schwülstige und umständliche Stil. Sicher darf man von einem Werk aus der Romantik keine glatt polierte Sprache erwarten, doch Hoffmann schießt manches Mal ein wenig über das Ziel hinaus. Gewiss hätte es dem Werk gut getan, wenn einige Sätze etwas kürzer ausgefallen wären; auch die gehäufte Verwendung von Adjektiven nimmt phasenweise überhand.

Fazit:

Eine romantische Novelle im kriminalistisch-historischen Gewand, die eine unterhaltsame Lektüre und interessante Deutungsansätze mit sich bringt. Spannend zu lesen, wenngleich die Ermittlungen noch nicht der traditionellen Detektivgeschichte entsprechen. Die oft pathetische Sprache mit verschachtelten Sätzen kann das Lesevergnügen trüben.