27. August 2014

Eine amerikanische Tragödie - Theodore Dreiser

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Produktinfos:

Ausgabe: 1925
Seiten: 764

Der Autor:

Theodore Dreiser (USA), 1871-1945, entstammte einer Arbeiterfamilie und arbeitete zunächst als Journalist, bevor er im Jahr 1900 seinen ersten Roman veröffentlichte. Dreiser gehört zu den Hauptvertretern des amerikanischen Naturalismus und wird oft mit Emile Zola verglichen. Weitere Werke sind u. a.: Schwester Carrie, Jennie Gerhardt, Trilogie der Begierde (Der Finanzier, Der Titan, Der Stoiker).

Inhalt:


Kansas City, Anfang des 20. Jahrhunderts: Clyde ist eines von vier Kindern der Straßenprediger Asa und Elvira Griffith. Schon in jungen Jahren ist er unzufrieden mit seiner Herkunft und seinen Lebensverhältnissen. Clyde sehnt sich nach Geld und Unabhängigkeit, aber auch nach Ansehen in der Gesellschaft. Zunächst verdient er sich etwas Taschengeld als Sodawasserverkäufer, ehe er einen Job als Hotelpage antritt.

Der Alltag im luxuriösen Green-Davidson-Hotel fasziniert Clyde, der Verdienst übertrifft seine Erwartungen. Er schließt Freundschaft mit Kollegen und genießt sein neues Leben - bis er in einen Unfall verwickelt wird und aus Angst vor Strafverfolgung die Stadt verlässt. Sein Weg führt ihn über Umwege nach Lycurgus in New York, wo sein ihm bislang unbekannter Onkel Samuel eine Kragenfabrik leitet. Samuel Griffith ist recht angetan vom aufgeweckten Clyde und will ihm eine Bewährungschance geben; Clyde soll die Möglichkeit bekommen, sich in der Firma hochzuarbeiten.

Trotz der feindseligen Haltung seines Cousins Gilbert fühlt sich Clyde wohl in seiner neuen Position. Er lernt fleißig und verliebt sich schließlich in die bescheidene Arbeiterin Roberta. Da Verhältnisse zwischen Angestellten und Arbeiterinnen verboten sind, muss die Beziehung geheim bleiben. Allmählich aber erhält Clyde durch seine reiche Familie auch Eingang in die elitären Kreise. Dort lernt er die hübsche Sondra Finchley kennen, die aus wohlhabender Familie stammt. Weder Roberta noch Sondra ahnen etwas von seinem Doppelspiel. Als Roberta ungeplant schwanger wird, sieht Clyde seine Zukunft gefährdet. Eine Katastrophe bahnt sich an ...

Bewertung:

Ein Kriminalprozess aus dem Jahr 1906 inspirierte den großen Naturalisten Theodore Dreiser einst zu seinem berühmtesten Roman, der auch mehrfach verfilmt wurde. Ein junger Mann will nach oben, sucht seinen "Platz an der Sonne", wie es die Hollywoodverfilmung mit Montgomery Clift und Elizabeth Taylor so schön sagt - und wird dabei zum Opfer seiner Wünsche und Träume, die noch weitere Menschen mit ins Verderben ziehen. Zu Recht wird häufig der Vergleich zu Dostojewskis "Schuld und Sühne" gezogen und wer sich für menschliche Abgründe, psychologische Tiefe und Gesellschaftskritik jener Zeit interessiert, dem sei die "amerikanische Tragödie" als empfehlenswerter Klassiker ans Herz gelegt.

Das Werk präsentiert eine pessimistische Weltsicht, in der der Mensch einen nahezu aussichtslosen Kampf gegen Umwelteinflüsse führt. Die angeborene Herkunft, die kapitalistischen Ideale und die Klassenunterschiede bestimmen den Lauf den Lebens, ergänzt durch unglückliche Schicksalsbestimmungen. Gut sein und ebenso Handeln zu wollen alleine ist nicht ausreichend, das Individuum ist auf günstige Umstände angewiesen, um dies auch realisieren zu können. Clyde Griffith ist dementsprechend kein schlechter Mensch, er hat vor allem schlechte Karten. Seine Eltern sind nicht nur arm, sondern besitzen auch noch eine puritanische, äußerst eingeschränkte Weltsicht. Bescheidenheit und strenge Religiosität sind die Grundkomponenten, die sie vermitteln. Bezeichnenderweise ist auch Clydes Vater Asa wiederum durch seine Umwelt geprägt, wurde er doch vom Vater stets zurückgesetzt. Während Asas Brüder durch ein reiches Erbe ihr Leben erfüllend gestalten konnten, wurden für Asa die Weichen für ein Leben in Armut gelegt, dem auch nun sein Sohn Clyde kaum entfliehen kann.

Zwiespalt des Protagonisten

Clyde schämt sich für die Missionstätigkeit auf der Straße und sehnt sich nach der Erfüllung des amerikanischen Traums - sich hocharbeiten in ein wohlhabendes Leben, auch wenn es Mühe kostet. Eine umfassende Schulbildung durfte Clyde nicht genießen, doch er ist lernbegierig und recht aufgeweckt. Engagiert tritt er seine ersten Jobs an und ist selig, als er endlich eigenes Geld verdient. Die Kragenfabrik seines reichen Onkels und dessen dezentes, aber durchaus wohlwollendes Entgegenkommen scheinen Clyde neue Perspektiven zu eröffnen. Doch nun ist es sein Cousin Gilbert, der ihm äußerlich so gleicht und der gerade deshalb unwillig und ablehnend auf den armen Verwandten reagiert. Auch Clydes Onkel Samuel ist auf Äußerlichkeiten und den Ruf von Familie und Firma bedacht, Gilbert allerdings in noch weit höherem Maße. Clyde erhält keine Chance von Gilbert auf eine freundschaftliche oder familiäre Beziehung, stattdessen nutzt Gilbert jede Gelegenheit, um den unliebsamen Cousin schlechtzureden.

Auch die Liebe zur sanften Roberta vermag nur kurzzeitige, aber keine dauerhafte Erfüllung zu bringen. Die Beziehung muss geheim bleiben, will Clyde seine Stellung nicht verlieren, die ungewollte Schwangerschaft bedeutet eine Katastrophe. Dazu kommt Clydes frisch entflammte Liebe zur schönen Sondra Finchley, deren Kreise all das verkörpern, was sich der junge Mann seit jeher erträumt. Clyde steht nicht nur zwischen zwei Frauen, sondern zwischen zwei Welten - doch wenn er Roberta verlässt, droht sein Doppelspiel aufzufliegen, sodass er beide Frauen verlieren würde. Dieser Zwiespalt, dem Dreiser viele Seiten widmet, übt einen besonderen Reiz auf den Leser aus. Clydes Situation wird immer gefährlicher, immer öfter hat er Mühe, für die Absagen gegenüber Roberta plausible Gründe zu finden. Dazu kommt, dass sein Name bei gesellschaftlichen Ereignissen gelegentlich in der Zeitung genannt wird und Roberta seine Aktivitäten daher nicht geheim bleiben.

Auch gegenüber Sondra kann er nie ganz entspannt sein: Zum einen schwebt stets Roberta wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf. Zum anderen hat er gegenüber Sondra und deren Freunden seine Herkunft und seinen Verdienst geschönt dargestellt. Seine Verwandtschaft mit Samuel Griffith sorgt zwar für Anerkennung, doch darf niemand erfahren, wie wenig Kontakt er tatsächlich zur Familie seines Onkels pflegt, dass er sie erst vor Kurzem kennen gelernt hat und wie arm demgegenüber seine Eltern sind. Die ständigen Lügen und Verstellungen gegenüber beiden Frauen weiten sich zum Parforceritt aus, die Schlinge um Clydes Hals zieht sich immer enger zu. Den Höhepunkt seines seelischen Zwiespalts erreicht Clyde im 47. Kapitel, das dank seiner Intensität gewiss die beste Stelle des gesamten Romans darstellt. Puritanisches Gedankengut und Fixierung auf Statussymbole ziehen sich wie ein roter Faden durch die Einstellungen der Figuren und machen eine individuelle Bewährung nahezu unmöglich.

Clydes ungünstige Umstände - seine Herkunft, sein ablehnender Cousin, die Engstirnigkeit der Gesellschaft, die überwiegend nach Abstammung und Vermögen urteilt - sind für einen Großteil der Ereignisse verantwortlich, aber auch sein eigener Charakter trägt sein Quäntchen dazu bei. Clyde ist, insbesondere zu Beginn, keine sehr sympathische Figur. Er ist recht oberflächlich, er denkt viel an seine eigenen Belange, er handelt vorschnell, er gesteht Fehler ungern ein. Allerdings sorgt seine schwierige Ausgangslage auch für Verständnis beim Leser; bewusst stellt Clyde eine Durchschnittsperson dar, die nicht über die überdurchschnittliche Kraft und Stärke verfügt, um sich gegen den Determinismus aufzulehnen.

Überwiegend facettenreiche Charaktere

Die weiteren Figuren sind größtenteils facettenreich angelegt, sieht man von Gilbert Griffith ab, dem jedweder sympathische Zug fehlt. Gilbert ist arrogant und eitel, schon als sein Vater ihm von der Ähnlichkeit zwischen ihm und Clyde berichtet, nimmt er sich vor, den fremden Cousin rundweg abzulehnen. Um es sich nicht mit seinem Vater zu verscherzen, duldet er Clyde in der Firma, ist jedoch stets bemüht, dessen Fähigkeiten in Abrede zu stellen. Differenzierter scheint dagegen Gilberts Vater. Er fühlt zwar keinen großen familiären Bezug mehr zu seinem Bruder Asa, den er seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen hat, aber im Stillen erkennt er an, dass Asa ihm gegenüber deutlich benachteiligt wurde; sein Wohlwollen gegenüber Clyde beruht sowohl auf einer grundsätzlichen Sympathie als auch auf dem Gefühl, seines Bruders Familie eine kleine Wiedergutmachung zukommen lassen zu müssen.

Sowohl die reiche Sondra Finchley als auch die arme Roberta sind gelungene Charaktere und erfreulicherweise werden sie nicht als reine Gegenpole gegeneinander ausgespielt. Roberta ist ein einfaches, hübsches, liebenswertes Mädchen, das seiner Familie nah steht und das Clyde von ganzem Herzen liebt. Neben Clydes innerem Zwiespalt gehören Robertas Seelennöte, als sich Clyde allmählich von ihr abwendet, zu den beeindruckendsten Passagen des Werks.

Sondra dagegen stammt aus reicher und angesehener Familie und gilt als strahlende Schönheit, doch ist sie nicht so oberflächlich wie viele andere aus ihrer Schicht. Gewiss glaubt sie zunächst, dass Clydes Vergangenheit etwas nobler ist als in Wirklichkeit der Fall, aber Geld ist für sie nicht alles. Sie schätzt an Clyde weit mehr als sein hübsches Aussehen und seine Zugehörigkeit zur berühmten Griffith-Familie und hat keine Scheu, ihm heimlich immer wieder etwas Geld zuzustecken, damit er sich nicht vor den gemeinsamen Bekannten bloßgestellt fühlt. Sondra ahnt nicht, in welche Probleme Clyde durch die Liebe zu ihr gestürzt wird und wird selbst zu einer Art tragischen Gestalt, da sie unwissentlich Clydes Nöte verstärkt und schließlich Gefahr läuft, ihren eigenen Ruf zu verlieren. Eine weitere wichtige Gestalt ist Clydes Mutter Elvira. Ihr strenger Glaube und ihr engstirniger Moralkodex, der Roberta für deren Unkeuschheit eine erhebliche Mitschuld zuspricht, stehen einer bedingungslosen und aufopferungsvollen Mutterliebe gegenüber, deren Intensität den Leser anrührt.

Kleine Mankos

Dreisers Werk zählt zu den wichtigsten amerikanischen Romanen des 20. Jahrhunderts, indes ist es nicht ganz frei von Schwächen. Grundsätzlich ist sein Stil gewöhnungsbedürftig - oft ausufernd und an vielen Stellen zu erklärend. Figuren werden häufig mit einer expliziten Kurzcharakteristik vorgestellt, statt sie durch ihr Handeln oder ihre Reden indirekt zu beschreiben, was ein bisschen unbeholfen wirkt. Andere Vorstellungen wirken gar unfreiwillig komisch, etwa wenn es über eine Firmenangestellte lapidar heißt: "Sie war klein, dick, hässlich und etwa fünfunddreißig Jahre alt."

Neben Gilbert und vielleicht auch Clydes etwas zu negativer Darstellung fällt vor allem auf, dass Clydes Geschwister sehr kurz kommen. Zu Beginn des Romans liegt noch die Erwartung nah, dass auch sein Bruder und seine beiden Schwestern näher beleuchtet werden. Tatsächlich aber erhält nur Esta etwas Raum, über Julia und Frank erfährt man dagegen so gut wie nichts. Sehr übertrieben erscheint sehr frühes Liebesgeständnis, indem er Roberta bereits nach dem ersten privaten Treffen rundheraus gesteht: "Sie müssen wissen, dass ich rasend verliebt in Sie bin, seitdem Sie hier sind". Gerade da Clyde weiß, dass er seine Stellung damit riskiert, über die er so glücklich ist, ist dieses Verhalten fraglich - schließlich kann er Roberta zu diesem Zeitpunkt wohl kaum bereits so gut einschätzen, dass sie Stillschweigen bewahren wird.

Fazit:

Ein insgesamt sehr lesenswerter Roman, der zu Recht zu den amerikanischen Klassikern zählt. Den Leser erwartet hier ein in weiten Teilen typisch naturalistisches Werk, das sich gesellschaftskritisch mit den Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts und der Illusion des amerikanischen Traums auseinander setzt.

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