27. Dezember 2016

Elanus - Ursula Poznanski

Produktinfos:

Ausgabe: 2016
Seiten: 416
Buchhandel.de
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Die Autorin:

Ursula Poznanski wurde 1968 in Wien geboren. Sie begann verschiedenste Studiengänge zu belegen, ehe sie sich für einen Werdegang als Medizinjournalistin entschied. Seit 2003 schreibt sie Jugend- und Erwachsenenbücher, insbesondere Thriller. Werke von ihr sind beispielsweise "Erebos", "Saeculum", "Fünf", "Blinde Vögel" und gemeinsam mit Arno Strobel "Fremd" und "Anonym".

Inhalt:

Der siebzehnjährige Jona ist hochbegabt und vor allem im mathematisch-technischen Bereich seinen Alterskollegen um einige Jahre voraus. Daher erhält er ein Vollstipendium an einer Elite-Universität und zieht dafür in eine Gastfamilie in der Universitätsstadt. In sozialen Belangen ist Jona allerdings umso unbeholfener; er hat Probleme damit, Freundschaften und Beziehungen einzugehen.

Niemand ahnt etwas von Jonas privatem Forschungsprojekt, einer äußerst leistungsfähigen, mit Mikrofon und Kamera ausgestatteten Drohne, die er "Elanus" getauft hat. Mit ihrer Hilfe spioniert Jona seine Mitmenschen aus: Über die Handynummer ortet die Drohne den Besitzer, fliegt leise und unauffällig zu ihm und macht Ton- und Filmaufnahmen, die Jona zuhause live am Computer verfolgt und abspeichert. Egal, ob Jona sich an jemandem rächen will oder Infos zu einem interessanten Mädchen sucht, die Drohne beschafft ihm intime Einblicke in die Privatsphäre anderer, die er für sich nutzen kann.

Doch kurz nach Jonas Ankunft an der Uni passieren merkwürdige und beunruhigende Dinge. Ein Dozent nimmt sich das Leben, eine Kommilitonin scheint mehr darüber zu wissen. Zudem hat Jona mehr und mehr das Gefühl, dass er selbst ausspioniert wird. Irgendjemand weiß offenbar von seiner Drohne und sieht in Jona eine Gefahr, die beseitigt werden muss ...

Bewertung:

Ursula Poznanski beweist nach Büchern wie "Saeculum" mit "Elanus" erneut, dass sie nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Jugendliche spannende Thriller schreiben kann. Das in routiniert-flüssigem Stil verfasste "Elanus" ist ein sehr zeitgemäßes Werk, das sich den technischen Möglichkeiten der Überwachung und Spionage widmet und das Gefahrenpotenzial zum Thema macht - freilich eingebettet in eine kurzweilige Handlung, die in erster Linie unterhält und nicht belehrt oder kritisiert. Protagonist Jona kommt einerseits in den Genuss dieser hochmodernen Techniken, schließlich erfährt er durch seine Drohne viele Probleme und Geheimnisse seiner Mitmenschen, die ihm sonst verschlossen blieben. Andererseits erfährt Jona auch, dass es lebensgefährlich ist, mit seiner Drohne den falschen Menschen zu nahe zu kommen. Sein "Elanus" ist eigentlich nur als private Spielerei gedacht, doch ehe er sich's versieht, ist Jona ist kriminelle Machenschaften verwickelt.

Die Handlung ist spannend, da sie genug Fragen aufwirft, die man als Leser gerne beantwortet sehen möchte und deren Antworten nicht zu vorhersehbar sind. Da ist die Frage, warum sich Jonas Dozent das Leben genommen hat - wenn es denn tatsächlich ein Selbstmord war. Da ist die Frage, was Jonas Kommilitonin Linda darüber weiß, denn sie ist ausgesprochen bestürzt über den Vorfall, obwohl er sie nicht einmal unterrichtete. Und da ist die Frage, was Dr. Schratter, der Rektor der Universität, möglicherweise mit diesen Dingen zu tun hat. Obwohl Jona einige Dinge zu seinem Studium mit ihm besprechen soll, scheint es unmöglich, ihn zu treffen; immer ist der Rektor gerade weg oder in einer Besprechung, selbst fest ausgemachte Termine lässt er ohne Absage ausfallen, fast als ginge er Jona bewusst aus dem Weg.

Auch andere Menschen in Jonas Umfeld verhalten sich zunehmend merkwürdig ihm gegenüber, er wird offenbar als unliebsamer Mitwisser beobachtet und verfolgt und weiß nicht einmal, was er so Brisantes erfahren haben soll, dass man ihn so fürchtet. Zu allem Überfluss wohnt Jona nicht mehr zuhause, sondern ist für das Studium zu einer Gastfamilie gezogen, hat also niemand Vertrauten um sich herum und weiß nicht, wer aus seinem neuen Umfeld Freund und wer Feind ist.

Die Schwäche des Romans liegt darin, dass ausgerechnet Protagonist Jona vor allem zu Beginn unsympathisch erscheint. Er verhält sich arrogant gegenüber seinen Mitmenschen, stellt sich beispielsweise gleich in seiner ersten Vorlesung als "so hochbegabt, dass es kaum noch auszuhalten ist" vor und reißt den Vortrag gegen den Willen des Dozenten an sich. Dass er seine Mitmenschen mithilfe seiner Drohne ausspioniert und ihnen aus Spaß sogar anonyme Drohzettel à la "Ich weiß, was du getan hast" zusteckt, macht ihn definitiv nicht liebenswerter. Gerade auf den ersten zwanzig, dreißig Seiten ist das Risiko recht hoch, dass man genervt das Buch zuklappt und auf die weitere Lektüre verzichtet.

Zumindest in diesem Anfangsstadium ist Jona auch kein typischer Antiheld, der gerade durch seine Schwächen zum Identifizieren einlädt, da man nur schwer Verständnis für sein Verhalten aufbringen kann. Glücklicherweise bessert sich das mit der Zeit. Jona schämt sich später mehrmals für sein Verhalten und bereut manche Dinge, er hält sich mit arroganten Bemerkungen zurück und zeigt Hilfsbereitschaft. Ungefähr nach dem ersten Drittel fühlt man sich ihm näher und er wird schließlich tatsächlich zu einer Figur, mit der man bangt und leidet - sofern man nicht vorher schon die Geduld mit ihm verliert.

Fazit:

"Elanus" von Ursula Poznanski ist insgesamt ein spannender und kurzweiliger Thriller für Leser ab etwa vierzehn Jahren mit einer interessanten Thematik. Gewöhnungsbedürftig ist allerdings, dass ausgerechnet die Hauptfigur anfangs recht unsympathisch erscheint. Das bessert sich im Handlungsverlauf, ist aber zunächst abschreckend.

18. Dezember 2016

Niemand sieht mich kommen - Lisa Scottoline

Produktinfos:

Ausgabe: 2016
Seiten: 416
Buchhandel.de
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Die Autorin:

Lisa Scottoline aus den USA, eigentlich Lisa Scott, hat als Anwältin für das US-Berufungsgericht gearbeitet und baut ihre juristische Erfahrung gerne in ihre Romane ein. 1994 erschien ihr erster Roman "Die Katze war noch da", der erste Teil der Rosato & Partner-Reihe, die inzwischen mehr als zehn Bücher umfasst. Weitere Werke sind u.a. "Die Staatsanwältin", "Die Richterin" und "Rabenmutter".

Inhalt:

Eric Parish ist ein erfolgreicher Psychiater, der in Philadelphia die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses leitet und nebenbei noch eine eigene Praxis führt. Privat dagegen gerät sein Leben aus den Fugen, als sich seine Frau Caitlin von ihm trennt und ein erbitterter Sorgerechtsstreit um die siebenjährige Tochter Hannah entbrennt.

In diesen Tagen nimmt Eric den siebzehnjährigen Max als Privatpatienten an. Der intelligente, aber unsichere Max leidet unter einer Zwangsneurose, zudem liegt seine geliebte Großmutter im Sterben, während die Mutter Alkoholikerin ist, und Eric sorgt sich um den Jungen. In den Therapiestunden erfährt Eric, dass Max von einem Mädchen besessen ist und sie regelmäßig stalkt.

Kurz darauf beschuldigt eine Medizinstudentin Eric der sexuellen Belästigung, nachdem er sie abgewiesen hat. Sein Job steht auf dem Spiel, ebenso sein Kontakt zu Hannah. Doch es kommt noch schlimmer, als Max' Angebetete ermordet aufgefunden wird. Plötzlich steht Eric unter Mordverdacht und alles spricht gegen ihn. Irgendjemand will offenbar sein Leben zerstören - doch wer und warum ...?

Bewertung:

Von ganz oben nach ganz unten geht es für Eric Parish, den Protagonisten in Lisa Scottolines Thriller "Niemand sieht mich kommen".

Nach der schmerzlichen Trennung von seiner Frau und den Sorgerechtsproblemen findet er zunächst Halt in seiner Arbeit, ist er doch ein überaus erfolgreicher und geschätzter Psychiater, dem seine Patienten sehr am Herzen liegen. Eric ist grundsätzlich eine sympathische Figur und man kann sein Handeln in der ersten Hälfte des Romans gut nachvollziehen. Er hängt an seiner Exfrau und leidet darunter, dass sie schnell einen neuen Partner findet, er vermisst seine Tochter und registriert besorgt, dass Hannahs Mutter das introvertierte Mädchen zu Hobbys drängt, die Hannah gar nicht gefallen. Man kann sich schnell in Eric und seine Probleme einfühlen, sodass man mit ihm leidet, als sein Leben nach und nach aus den Fugen gerät. Ein paar unglückliche Umstände machen Eric plötzlich zum Mordverdächtigen, und es ist recht spannend zu verfolgen, wie sich diese Lage immer weiter zuspitzt. Man weiß als Leser um Erics Unschuld, dementsprechend möchte man auch erfahren, wie er aus dieser scheinbar hoffnungslosen Lage wieder herauskommt - und natürlich ebenso, wer hinter diesen Taten steckt und warum es derjenige gerade auf Eric abgesehen hat.

Recht gelungen ist zudem die Nebenfigur Paul, Pauls unkonventioneller Anwalt. Paul wirkt dank seiner flotten Sprüche und seinem ausgeprägten Humor anfangs alles andere als seriös, stellt sich dann aber als ausgesprochen fähig heraus. Obendrein ist er der Bruder von Erics platonischer Freundin Laurie und möchte die beiden gerne verkuppeln, zu Erics Leidwesen geht er dabei nicht gerade subtil vor und stürzt die beiden immer wieder in Verlegenheit.

Aber auch wenn sich der Thriller weitgehend sehr flüssig liest, offenbart er doch gerade in der zweiten Hälfte einige Schwächen. Erics Verhalten ist hier nicht mehr in allen Belangen plausibel, sein extremer Einsatz für Max, den er ja erst seit Kurzem kennt, erscheint übertrieben. Das Motiv des Täters ist enttäuschend, weil sehr banal. Da sich der Täter immer wieder in kurzen Kapiteln zur Wort meldet und geheimnisvoll gibt, war an dieser Stelle mehr zu erwarten; stattdessen sind die Hintergründe zu den Taten sehr simpel und mitnichten raffiniert oder komplex. Das Ende kommt vergleichsweise zu plötzlich daher, wird zu schnell abgehandelt und wirkt etwas plump. Während man in der Handlung zuvor durchaus hätte Straffungen vornehmen können, spielt sich das Finale überhastet ab. Kurz vor Schluss gibt es noch einen weiteren Twist in der Handlung, der zwar unerwartet sein mag, aber doch konstruiert und weit hergeholt erscheint, gerade so, habe man hier zwanghaft noch einen nachhaltigen Überraschungseffekt einbauen wollen, der jedoch nicht wirklich überzeugt.

Fazit:

Lisa Scottolines "Niemand sieht mich kommen" ist ein grundsätzlich solider Thriller, wenn man leichte Unterhaltung sucht und Spannungsromane mag, die im psychiatrischen Milieu spielen. Allerdings ist das Ende in mehrfacher Hinsicht nicht sehr überzeugend, eine Wendung ist eher lasch und die andere dafür umso übertriebener. Kann man lesen, aber man verpasst auch nicht viel, wenn man das Werk auslässt.

28. November 2016

Die Mühle - Elisabeth Herrmann

Produktinfos:

Ausgabe: 2016 bei cbt
Seiten: 448
Buchhandel.de
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Die Autorin:

Elisabeth Herrmann, geboren 1959, begann erst eine Lehre als Bauzeichnerin und arbeitete dann als Maurerin und Betonbauerin, ehe sie das Abitur nachholte und studierte. Heute ist sie als Fernsehjournalistin für den RBB und als freie Autorin tätig. Gleich mit ihrem ersten Roman "Das Kindermädchen" gelang ihr der Durchbruch. Weitere Werke sind u.a. "Die siebte Stunde", "Die letzte Instanz" und "Lilienblut".

Inhalt:

Joshua, Johnny, Tom, Stephan, Siri, Cattie und Franziska - das war die coole und allseits bewunderte, aber auch unnahbare Clique auf Lanas früherer Schule. Lana, zwei Stufen unter ihnen, wurde nie von ihnen beachtet, obwohl sie heimlich für Johnny schwärmte. Jahre später trifft sie überraschend Johnny an der Berliner Uni wieder. Nachdem sie ihm bei einem kleinen Unfall zu Hilfe kommt, erfährt sie, dass sich die Clique nach der Schulzeit getrennt hat.

Geplant ist aber ein Wiedersehenstreffen in einem Luxushotel im tschechischen Karlsbad, Fahrt und Hotel sind bereits bezahlt. Da Johnny aus gesundheitlichen Gründen die Fahrt nicht antreten kann, überlässt er Lana seinen Platz, die spontan annimmt. In Karlsbad angekommen, sind die anderen sechs erst einmal wenig begeistert, dass statt Johnny plötzlich Lana bei ihnen aufschlägt, aber notgedrungen akzeptieren sie ihre Teilnahme.

Es stellt sich heraus, dass anscheinend ein unbekannter Gönner das Treffen arrangiert und bezahlt hat. Eine Limousine bringt die Gruppe in die Berge, wo sie auf eine alte Mühle stoßen. Auch hier hat der unbekannte Gastgeber alles für sie vorbereitet. Doch die jungen Leute entdecken auch beunruhigende Hinweise und es scheint, als führe der Unbekannte nichts Gutes mit ihnen im Schilde. Spätestens als einer von ihnen verschwindet und der Rückweg abgeschnitten ist, wird Lana klar, dass sie in höchster Gefahr schweben ...

Bewertung:

Elisabeth Herrmanns Jugendthriller "Die Mühle" entwirft ein sehr reizvolles Ausgangsszenario voll Spannung und dichter Atmosphäre, sieht man von ein paar kleinen Schwächen ab, die vor allem den Anfangsteil betreffen.

Die zwanzigjährige Lana erzählt rückblickend jene dramatischen Ereignisse, die sich innerhalb weniger Tage abspielen. Die Handlung funktioniert nach dem Zehn-kleine-Negerlein-Prinzip, da nach und nach Mitglieder der Gruppe verschwinden. Es ist lange Zeit unklar, was mit ihnen geschehen ist, ob sie sich verlaufen haben, verunfallt oder gar entführt oder getötet worden sind. Ebenso ist unklar, wer hinter der Organisation steckt und was derjenige damit bezweckt. Man ahnt zwar, dass irgendjemand Rache an der Clique nehmen will, doch die - plausiblen - Beweggründe werden erst spät offenbart.

Bis dahin beherrschen eine düstere Atmosphäre und unheimliche Geschehnisse die Handlung. Die einsame und imposante Mühle ist ein gelungener Schauplatz, einerseits der einzige Zufluchtsort in der verwilderten, rauen Natur, andererseits geht hier offenbar der unbekannte Gastgeber ein und aus, ohne von der Gruppe gesehen zu werden. Nachdem die Gruppe erst einmal den Ernst der Lage begriffen hat, werden die Beklemmung und die wachsende Verzweiflung sehr intensiv dargestellt. Die Handys haben in der abgelegenen Gegend keinen Empfang, der Rückweg ist ungewiss und gefährlich, Unwetter und Kälte bedrohen die jungen Leute. Sie reagieren misstrauisch aufeinander und sind sich uneins, wie man weiter verfahren soll.

Im Laufe der Zeit gewinnen die Cliquenmitglieder an Kontur. Franziska ist zunächst die Freundlichste gegenüber Lana, doch auch sie verliert später ihr gegenüber die Nerven. Siri verhält sich arrogant, die Karrierefrau Cattie hat ein Alkoholproblem, Tom taut auf, nachdem Lana ihm bei der Brückenüberquerung beigestanden hat. Lana merkt schnell, dass ihre einst bewunderten "Götter" ausgesprochen menschlich sind und einige Schwächen besitzen. Als Außenstehende hat Lana den schwersten Stand und muss sich immer wieder gegen Verdächtigungen wehren, dass sie, womöglich gemeinsam mit Johnny, hinter dem Ganzen steckt. Gemeinsam mit Lana wartet der Leser gebannt darauf, endlich zu erfahren, welches fatale Geheimnis die Clique verbindet, das womöglich den Hintergrund für dieses Zusammentreffen bildet. Grundlegend ist der Thriller für Jugendliche ab etwa fünfzehn Jahren geeignet, wobei er sich ebenso gut für Erwachsene anbietet. Zwar gibt es immer mal wieder selbstironische Kommentare von Lana, doch der Tenor ist überwiegend ernst, unheimlich und dramatisch, vor allem gegen Ende hin melancholisch.

Die Schwächen betreffen in erster Linie den Anfang, da hier die Glaubwürdigkeit ein bisschen auf der Strecke bleibt. Es erscheint etwas fragwürdig, dass Jana sich so spontan auf die Reise ins Unbekannte nach Karlsbad einlässt - um den reservierten Zug zu erwischen, eilt sie direkt von Johnny zum Bahnhof, verzichtet also auf Gepäck und tritt die Fahrt nur mit dem Nötigsten wie Handy und Portemonnaie an. Zudem ist sie für die anderen sechs quasi eine Fremde, die sie maximal vom Sehen kennen und teilweise nicht einmal das, hat auf einem Cliquentreffen also nichts verloren, auch wenn Johnny ihr seine Fahrtkarte überlassen hat. Es wirkt insgesamt etwas zu konstruiert und gezwungen, dass Lana ohne direkten Bezug zu der Clique zum Treffen fährt, obwohl sie damit rechnen muss, dass die anderen ihre Teilnahme ablehnen.

Des Weiteren wird nicht ganz deutlich, weshalb die Clique seinerzeit überhaupt so faszinierend war; kein Vergleich etwa zu der charismatischen Clique in Donna Tartts Krimi "Die geheime Geschichte", wo der Leser sehr gut nachvollziehen kann, dass der Ich-Erzähler zu diesem elitären Kreis gehören möchte. In diesem Fall wird eher behauptet als wirklich demonstriert, dass die Clique so interessant ist, dass Lana spontan die Reise zu ihnen antritt, zumal sie jahrelang keinen von ihnen gesehen hat. Überdies reagieren die Cliquenmitglieder grundsätzlich etwas zu unbekümmert auf die ersten bedrohlichen Hinweise. Zu Beginn denken sie offenbar, einer von ihnen hätte heimlich das Treffen arrangiert. Aber spätestens, als sie für ein Picknick eine Hängebrücke überqueren müssen, die anschließend abreißt, erwartet man deutlich mehr Misstrauen und Besorgnis bei den Reaktionen.

Fazit:

"Die Mühle" von Elisabeth Herrmann ist ein - von kleinen Schwächen abgesehen - spannender, beklemmender und unheimlicher Thriller für jugendliche und erwachsene Leser, der durch eine dichte Atmosphäre überzeugt.

25. November 2016

Dangerous Boys - Abigail Haas

Produktinfos:

Ausgabe: 2015
Seiten: 352
Buchhandel.de
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Die Autorin:

Abigail Haas wuchs im englischen Sussex auf und lebt mittlerweile in den USA. Sie studierte in Oxford Politik, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. Ihre Thriller erscheinen auch unter den Namen Abby McDonald und Melody Grace. Weitere Werke sind u.a.: Dangerous Girls, L.A. Lovestory, Plötzlich Liebe und Mein perfekter Sommer.

Inhalt:

Eigentlich stand für Chloe fest, dass sie nach ihrem sehr guten High-School-Abschluss aufs College gehen und das öde Kleinstadtleben hinter sich lassen wird. Doch dann kommt alles anders, als ihr Vater die Familie verlässt und ihre Mutter in tiefe Depressionen versinkt. Chloe verschiebt schweren Herzens ihre Collegepläne und hält sich und ihre Mutter finanziell mit Nebenjobs über Wasser.

Ihr einziger Lichtblick ist ihr neuer Freund Ethan, der gerade mit seiner Familie hierhergezogen ist. Die Treffen mit ihm lenken Chloe von ihrer eigenen trostlosen Situation zuhause ab. Eines Tages steht aber überraschend Ethans älterer Bruder Oliver bei seiner Familie vor der Tür. Oliver hat kurzerhand sein Studium geschmissen und nimmt sich eine Auszeit bei seiner Familie.

Schon bald ist Chloe klar, dass Oliver ganz anders als Ethan ist - frecher, geheimnisvoller und auf seine Art ebenso anziehend wie sein Bruder, wenn nicht noch mehr. Anfangs ist Chloe genervt von Olivers dreistem Auftreten, doch schon bald fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Es beginnt ein brisantes Dreiecksverhältnis, das ein tödliches Ende nehmen wird ...

Bewertung:

Nach "Dangerous Girls", in dem zwei Mädchen im Mittelpunkt standen, widmet sich Abigail Haas in "Dangerous Boys" einem Mädchen und zwei rivalisierenden Brüdern, einer äußerst prekären Beziehungskonstellation.

In die Haupthandlung werden immer wieder kurze Vorblenden zwischengeschaltet, die kurz nach einer Eskalation spielen, die offenbar für einen der Brüder tödlich endete. Aber welcher der beiden Brüder das ist und wer vor allem auf wen losgegangen ist und welche Rolle Chloe dabei spielt, das bleibt lange Zeit offen. Es ist ein spannendes, reizvolles Szenario, das hier entworfen wird. Chloe ist zu Beginn eine sympathische Protagonistin, die mit einem schwierigen Familienschicksal zu kämpfen hat. Ihr Vater verlässt die Familie für eine andere Frau, mit der er ein Kind bekommt. Chloes Mutter versinkt in schweren Depressionen, verweigert das Essen und ist nicht mehr arbeitsfähig, sodass Chloe allein für den Unterhalt aufkommen muss. Ihre persönliche Situation berührt, und es ist gut nachzuvollziehen, wie sehr Chloe darunter leidet, dass sie ihre Mutter umsorgen muss, statt ins Collegeleben einzusteigen. Zu allem Überfluss ist ihre beste Freundin Alisha zum Studieren weggezogen und meldet sich immer seltener.

Da ist es nur naheliegend, dass Chloe sich bereitwillig auf den netten Ethan einlässt, dessen Familie so harmonisch erscheint und der ihr die Wärme schenkt, die sie derzeit von niemandem sonst bekommt. Die Faszination für Oliver entwickelt sich schleichend. Er besitzt eine gewisse Bad-Boy-Attitüde, ist charmant und intelligent, dabei aber auch unstet. Obwohl er kurz vor seinem Studienabschluss steht und dort zu den Besten gehört, bricht er sein Studium ab und kehrt nach Hause zurück, ohne konkrete Zukunftspläne zu haben. Für Chloe, die so gerne aufs College gehen würde, ist dieses Verhalten fast ein Affront, ganz zu schweigen von Olivers dreisten Bemerkungen ihr gegenüber. Dann aber erkennt sie allmählich, dass Oliver genau das erfüllt, was ihr bei Ethan fehlt, eine gewisse draufgängerische Art, mit der er sich selbstbewusst nimmt, was er will.

Es ist recht spannend, diese Situation zu verfolgen und darauf zu warten, dass Ethan hinter das Verhältnis kommt. Dennoch reicht "Dangerous Boys" bei Weitem nicht an die Klasse von "Dangerous Girls" heran. Hauptgrund dafür ist, dass Oliver einfach kein sympathischer Charakter ist, sodass es nie wirklich nachvollziehbar wird, dass sich Chloe in ihn verliebt. Anfangs triezt er sie immer wieder und verhält sich übergriffig, später kommt zwar sein Charme ein wenig zum Vorschein, doch er ist immer noch in erster Linie überheblich und egoistisch. Nicht ganz nachvollziehbar ist auch, dass Chloe nicht einmal ihrer besten Freundin anvertrauen möchte, was sie gerade mit ihrer Mutter zuhause durchleidet, obwohl Alisha und sie zu dem Zeitpunkt noch guten Kontakt miteinander haben. Zudem wartet sie aus Angst vor Kleinstadtgerede sehr lange, bis sie ihrer Mutter professionelle Hilfe verschafft, was ebenfalls nicht sehr plausibel erscheint. Des Weiteren büßt Chloe im Handlungsverlauf an Sympathiepunkten ein und eignet sich in der zweiten Hälfte immer weniger als Identifikationsfigur. Gegen Ende erwarten den Leser zwar ein paar Wendungen, doch ein nachhaltiger Effekt, wie ihn "Dangerous Girls" durchaus auslösen konnte, bleibt hier aus.

Fazit:

"Dangerous Boys" von Abigail Haas ist ein durchschnittlicher Thriller, halbwegs spannend und vor allem leicht zu lesen, ab etwa vierzehn Jahren geeignet. Verglichen mit dem ersten Young-Adult-Thriller der Autorin, "Dangerous Girls", fällt dieses Werk aber recht deutlich ab.

21. November 2016

Still - Zoran Drvenkar

Produktinfos:

Ausgabe: 2016 bei Heyne (Erstauflage 2014 bei Eder & Bach)
Seiten: 414
Buchhandel.de
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Der Autor:

Zoran Drvenkar, 1967 geboren in Jugoslawien und heute in Berlin lebend, arbeitete nach diversen Jobs seit 1989 als Autor. Er verfasst sowohl Kinder- und Jugend- als auch Erwachsenenbücher und erhielt für sein Schaffen zahlreiche Preise wie den Deutschen Jugendliteraturpreis und den Friedrich-Glauser-Preis. Weitere Werke sind u.a.: Sorry, Du, Die Kurzhosengang und Die Nacht, in der meine Schwester den Weihnachtsmann entführte.

Inhalt:

Seit mehreren Jahren verschwinden regelmäßig im Winter im Raum Berlin/Brandenburg Kinder, vermutlich Opfer eines Pädophilenringes. Die Kinder werden direkt aus dem Elternhaus entführt. Ein Mädchen konnte seinen Peinigern offenbar entkommen - fast nackt, fiebernd und schwer verstört. Lucia ist mittlerweile zwanzig und lebt in einem Pflegeheim. Sie hat seit ihrer Rückkehr kein Wort gesprochen.

Der Lehrer Mika Stellar vermutet, dass auch seine Tochter ein Opfer dieser Täter wurde. Weil die Polizei nicht weiterkommt, macht er selbst Jagd auf die Täter und dafür in die Pädophilenszene ein. Seine Recherchen führen ihn zu vier Männern, die sich regelmäßig in einer Kneipe treffen und die er als die Täter vermutet. Mika nimmt eine neue Identität an und sucht Kontakt zu ihnen.

Er gibt vor, seine eigene Tochter sexuell zu begehren, und gewinnt allmählich das Vertrauen der Männer. Sein Ziel ist es, Rache für seine Tochter und all die anderen Kinder zu nehmen und die Männer ein für alle Mal auszuschalten. Dabei ist ihm bewusst, dass ihn der kleinste Fehler verraten und ihm zum tödlichen Verhängnis werden kann ...

Bewertung:

Bewegend, düster, abgründig und stilistisch ungewöhnlich kommt Zoran Drvenkars vierter Thriller "Still" daher. Die Handlung gliedert sich in drei abwechselnde Erzählstränge, die jeweils mit "Ich", "Du" und "Sie" betitelt sind.

"Ich" thematisiert Mika Stellars Gedanken und liefert fesselnde und beklemmende Einblicke in die zerrissene Seele eines Vaters, der sich für seine Tochter in die Hölle begibt. Ein Jahr lang betreibt er sorgfältige Recherche und bereitet seinen Plan vor, bei dem das kleinste Scheitern seinen Tod bedeuten kann. Er nimmt einen anderen Namen - eben Mika Stellar - an, beschafft sich Papiere für seine neue Identität und wechselt seinen Arbeitsplatz, damit die Täter bei eigenen Überprüfungen keinesfalls erfahren, dass er Vater eines der Opfer ist. Er taucht ein in die Rolle eines pädophilen Familienvaters, der obendrein die eigene Tochter begehrt und zwischen Scham und Verlangen hin- und hergerissen ist. Mika weiß sehr genau, wie er vorgehen muss, um das Vertrauen der Männer zu gewinnen, um einer von ihnen zu werden. Er muss überzeugen in seiner Rolle als Pädophiler, darf aber auch nicht übertreiben oder zu aufdringlich werden, um seine neuen Freunde nicht misstrauisch zu machen. Jeder Satz den Männern gegenüber ist wohlüberlegt, um seine Rolle authentisch dazustellen: der schüchterne, unsichere Vater, der mit den Gefühlen zu seiner Tochter kämpft und schwankt zwischen Scham und der Erleichterung, sich Gleichgesinnten öffnen zu können. Es gelingt ihm gut, den Leser auf seine Seite zu ziehen, sodass man mit ihm fiebert und bangt, ob seine Tarnung hält oder es zu einer Katastrophe kommt. Zugleich ist man sich aber mehr und mehr auch bewusst, dass Mika bei seinem Rachefeldzug selbst moralische Grenzen überschreiten will und für seine Mission womöglich selbst etwas Menschlichkeit einbüßen wird.

Der "Du"-Strang widmet sich dem entkommenen Opfer Lucia. Die Handlung springt zurück zur Entführung der damals dreizehnjährigen Lucia und erzählt in knappen, eindringlichen Worten - konsequent in der Du-Perspektive -, was ihr und ihrem kleinen Bruder damals zugestoßen ist. "Sie" sind die Männer, die Jagd auf Kinder machen, immer wenn der Winter kommt. Schnee und Eis verdecken die Spuren, hüllen die Welt ein, und das ist die Zeit, wenn sie still und leise in die Häuser schleichen und ihre Beute holen.

Drvenkars Stil ist gewöhnungsbedürftig. Nicht allein, dass er die alte Rechtschreibung nutzt und statt Anführungszeichen Spiegelstriche setzt, sodass man leicht übersieht, welche Absätze eine wörtliche Rede kennzeichnen. Er nutzt auch oft kurze Sätze, formuliert eindringlich und bildhaft, spiegelt in seiner Sprache die Verzweiflung und die Besessenheit Mika Stellars wider. Man erfährt auch jeweils recht spät, wer "Ich", "Du" und "Sie" überhaupt sind, wie die drei Stränge inhaltlich und chronologisch konkret zusammengehören, sodass gerade auf den ersten zwanzig, dreißig Seiten mehr Konzentration als bei anderen Thrillern gefordert ist. Hat man sich erst einmal damit - und auch mit den leider recht zahlreichen Tippfehler, insbesondere was die Kleinschreibung der Höflichkeitsanrede angeht - abgefunden, passt dieser Stil gut zu der atmosphärisch dichten und harten Handlung.

Gegen Ende kommen mehrere Wendungen ins Spiel, von denen zumindest eine weit hergeholt ist und ein bisschen zu reißerisch wirkt. Davon abgesehen, ist das Ende gelungen, da es weder allzu harmonisch noch unbefriedigend ausgeht.

Fazit:

"Still" von Zoran Drvenkar ist ein beklemmender, atmosphärischer und spannender Thriller mit brisanter Thematik. Auf den zunächst gewöhnungsbedürftigen Stil muss man sich einlassen, dann liest sich der Roman flüssig. Gegen Ende hin kommt eine etwas überzogene Wendung ins Spiel, die aber den Gesamteindruck nicht wesentlich trübt.

19. November 2016

Pretty Baby. Das unbekannte Mädchen - Mary Kubica

Produktinfos:

Ausgabe: 2016
Seiten: 304
Buchhandel.de
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Die Autorin:

Mary Kubica studierte amerikanische Geschichte und Literatur und erlangte gleich mit ihrem Debütroman "Good Girl" den Durchbruch als Thrillerautorin. "Pretty Baby" ist ihr zweiter Roman, 2016 erschien "Don't you cry".

Inhalt:

Heidi Wood hat eine ausgeprägte soziale Ader, weshalb sie auch in einer gemeinnützigen Organisation arbeitet, wo sie sich vor allem um Immigranten kümmert. Eines Morgens fällt ihr im Zug ein offenbar obdachloses junges Mädchen mit einem Baby auf. Der Anblick lässt sie nicht los, und als sie das Mädchen wiedertrifft, lädt sie es spontan zum Essen ein.

Zögernd nimmt das Mädchen namens Willow an. Sie ist verdreckt und abgemagert und kaum in der Lage, für das Baby Ruby zu sorgen. Obwohl Willow fast nichts über sich preisgeben will, lässt Heidi nicht locker. Spontan nimmt sie Willow und Ruby zu sich nach Hause - sehr zum Missfallen ihres Ehemanns Chris und ihrer zwölfjährigen Tochter Zoe.

Um Willow nicht zu verschrecken, verständigt Heidi weder die Polizei noch das Jugendamt. Willow und das Baby können sich waschen und bekommen neue Kleidung, Ruby erhält zudem Medikamente. Heidi hofft, in den nächsten Tagen Willows Vertrauen zu gewinnen, um ihr noch besser helfen zu können. Nur widerwillig geht Chris auf seine Geschäftsreisen, immer in Sorge, was Willow vor ihnen verbergen mag und wer dieses fremde Mädchen überhaupt ist. Während er sich fragt, ob Willow möglicherweise gefährlich ist, entfremdet er sich zunehmend von seiner Frau, die sich ganz auf Willow und Ruby fixiert ...

Bewertung:

Mary Kubicas "Pretty Baby" präsentiert dem Leser eine grundsätzlich simple Handlung, in der einige Dinge anders sind, als sie scheinen, ein undurchsichtiges Netz aus Wahrheit und Lüge, das zum Rätseln einlädt, wie sich die angespannte Dreieckskonstellation aus Heidi, Chris und Ruby entwickeln wird.

Erzählt wird die Handlung abwechslend aus drei Perspektiven, wobei der Fokus auf Heidi liegt. Sie und Chris erzählen über die Zeit, in der Willow bei ihnen unterkommt. Willows Strang dagegen spielt kurze Zeit danach. Kleine Andeutungen aus Willows Bericht machen früh klar, dass zwischen ihrer Aufnahme bei den Woods und der Gegenwartshandlung etwas Dramatisches passiert ist, doch was genau vorgefallen ist und wer Täter und wer Opfer ist, offenbart sich erst spät.

Alle drei Hauptcharaktere sind durchaus komplex. Willow ist der undurchschaubare Teenager, laut eigener Aussage achtzehn, was sie aber ganz offensichtlich nur vorgibt, um dem Jugendamt zu entkommen. Während sie gegenüber Heidi und Chris überwiegend schweigt, erfährt der Leser ihr grausames Schicksal: Tod der Eltern, Trennung von der Schwester, Missbrauch und Gewalt in der neuen Familie sind die Kernpunkte, die Willows letzte Jahre bestimmt haben. Und doch wird lange Zeit geheim gehalten, was es mit Baby Ruby auf sich hat, wie Willow auf die Straße geraten ist und wie sie wirklich zu Heidi steht. Heidi ist zu Beginn vor allem sympathisch, kümmert sie sich doch aufopfernd um die beiden Obdachlosen. Willow und das Baby gehen ihr bereits nicht mehr aus dem Kopf, bevor sie auch nur ein Wort mit dem Mädchen gewechselt hat. Sie überlässt Willow zunächst ihr Jacke, lädt sie dann zum Essen ein, gibt ihr Geld, ehe sie sie schließlich mit nach Hause nimmt. Hier wird allerdings auch klar, dass Heidi zunehmend rücksichtslos ihr Helfersyndrom durchsetzt; Einwände ihres Mannes und ihrer Tochter werden abgewiegelt. Zudem erfährt der Leser nach und nach nicht nur aus Willows, sondern auch aus Heides Vergangenheit prekäre Details, die Heides Verhalten in ein etwas anderes Licht stellen.

Chris ist im Gegensatz zu Heidi der vernünftige Part, der zwar ein gewisses Mitgefühl für Willow besitzt, aber in erster Linie seine Familie schützen will. Er recherchiert heimlich über Willows Identität und versucht parallel, Heidi ein wenig aufzurütteln. Seine Bedenken sind sehr nachvollziehbar, allerdings spürt man auch, dass seine Beziehung zu Heidi schon vor Willows Eintreffen instabil war. Chris muss immer wieder auf Geschäftsreise, begleitet von seiner jungen und höchst attraktiven Kollegin Cassidy Knudsen, die ihn in Versuchung bringt. Ob Chris dieser Versuchung nachgibt und wie sich seine Beziehung zu Heidi unter den Belastungen entwickelt, ist zwar nicht so sehr im Fokus wie die Frage nach Willow, ist aber auch Teil der Handlung.

Über der gesamten Handlung liegt eine melancholisch-bedrohliche Atmosphäre, die den Leser zu fesseln versteht. Die (scheinbare oder tatsächliche) Bedrohung, die von Willow ausgeht, ist allerdings sehr subtil und entwickelt sich nur langsam. Auch die Wendung im hinteren Teil des Buches geschieht nicht plötzlich, sondern allmählich und lässt sich Schritt für Schritt mitverfolgen. Wer auf rasante Wendungen hofft, wird enttäuscht werden, ebenso, wer einen temporeichen Plot erwartet. Es ist kein typischer Psychothriller, der an den Nerven zerrt und den Leser beinah atemlos macht, "psychologischer Spannungsroman" gibt den Tenor eher wieder. Gewöhnungsbedürftig ist dazu, dass sich die vermeintliche Identifikationsfigur Heidi zunehmend schwierig verhält und man nicht mehr so sehr auf ihrer Linie liegt wie noch zu Anfang.

Fazit:

"Pretty Baby - Das unbekannte Mädchen" von Mary Kubica ist ein sehr reizvoller Roman, der den Leser geschickt in den Bann zieht und sehr unterhaltsame Lesestunden beschert. Die Grundhandlung ist simpel, entwickelt aber zunehmend eine fesselnde Atmosphäre. Allerdings muss sich der Leser auch auf ein gemächliches Voranschreiten einstellen, auch plötzliche Wendungen, wie sonst gerne in Psychothriller genutzt, bleiben hier aus.

18. November 2016

Dangerous Girls - Abigail Haas

Produktinfos:

Ausgabe: 2014
Seiten: 416
Buchhandel.de
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Die Autorin:

Abigail Haas wuchs im englischen Sussex auf und lebt mittlerweile in den USA. Sie studierte in Oxford Politik, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. Ihre Thriller erscheinen auch unter den Namen Abby McDonald und Melody Grace. Weitere Werke sind u.a.: Dangerous Boys, L.A. Lovestory, Plötzlich Liebe und Mein perfekter Sommer.

Inhalt:


Die siebzehnjährige Anna aus Boston macht mit ihrer Clique Urlaub auf Aruba, um dort den Spring Break zu feiern. Mit dabei sind auch ihr Freund Tate und ihre beste Freundin Elise. Doch der Trip ins Paradies wird zum Alptraum, als Elise ermordet wird - die Polizei findet sie erstochen in ihrem Zimmer.

Die Freunde sind völlig verstört und werden nacheinander von den Ermittlern befragt. Ein Teil von ihnen, Mel, AK, Chelsea und Lamar, hat ein solides Alibi für den Tatzeitpunkt. Die Befragungen konzentrieren sich daher schon bald auf Tate und Anna, die zu der Zeit zusammen waren. Aber Tate kommt dank eines cleveren Anwalts und einer Kaution seiner Eltern bald auf freien Fuß, während sich Staatsanwalt Dekker auf Anna fixiert.

Obwohl Anna ihre Unschuld beteuert, zieht sich die Schlinge immer enger zu. Ihre Freunde und selbst Tate wenden sich von ihr ab, die Medien stellen sie als eiskalte Killerin dar. Die Spur zu zwei weiteren Verdächtigen wird vom Staatsanwalt nicht verfolgt. Annas Anwalt bemüht sich, doch es scheint aussichtslos, sie vor einer Verurteilung zu retten ...

Bewertung:


"Dangerous Girls" lehnt sich oberflächlich an den wahren Mordfall Meredith Kercher an, der sich 2007 im italienischen Perugia ereignete, wenngleich natürlich einige Details abgewandelt werden. Die Ausgangssituationen unterscheiden sich ein wenig: Statt Perugia ist hier das karibische Aruba der Schauplatz, vermutlich inspiriert vom Fall der 2005 dort verschwundenen (und bis heute vermissten) achtzehnjährigen Natalee Holloway. Meredith Kercher war nicht wie Elise zum Urlaub, sondern als britische Austauschstudentin in Perugia, und die Tatverdächtige US-Amerikanerin Amanda Knox war keine enge Freundin des Opfers, sondern gleichfalls eine Austauschstudentin, die mit ihr in einer WG wohnte. Der als Mittäter angeklagte Raffaele Sollecito war zwar, wie Tate mit Anna, mit Amanda liiert, allerdings lernten sie sich erst kurz zuvor in Perugia kennen, während im Roman Tate, Anna und Elise Schulkameraden sind. Des Weiteren waren zumindest die amerikanischen Medien Amanda Knox recht gnädig gegenüber, und es gab viel Unterstützung aus der Heimat für sie, was bei Anna ausbleibt; außer ihrem Vater und ihrem Anwaltsteam scheint niemand auf ihrer Seite zu sein.

Davon abgesehen sind die Parallelen aber deutlich. Wie bei Amanda Knox und Raffaele Sollecito wird Anna und Tate ein tröstender Kuss kurz nach den Ereignissen zum Verhängnis, da die Medien ihr Verhalten als unangebracht kritisieren. Die Ermittlungen werden schlampig geführt, sodass DNA-Nachweise nicht eindeutig verwertet werden können. Bei Amanda Knox wurde eine im Rahmen einer Kreatives-Schreiben-Aufgabe verfasste kriminalistische Kurzgeschichte als Zeichen für ihr mörderisches Wesen gedeutet, so wie gegen Anna entsprechende selbst verfasste Gedichte verwendet werden. Wie bei Amanda Knox bemühen sich auch hier die Medien, sie nicht nur als kalt und ungewöhnlich gefasst, sondern auch als Femme fatale und partyfeierndes, drogenkonsumierendes Luder darzustellen.

Die Anklage vermutet ein sexuelles, von Eifersucht geprägtes Verhältnis zwischen Anna und Elise und präsentiert ein durchaus glaubwürdiges Motiv für die brutale Tat. Anna wiederum belastet zwei junge Männer, die Elise kurz zuvor kennenlernte, als potenzielle Täter: Juan ist ein Straßenverkäufer, mit dem Elise zunächst flirtete, ehe sie ihn zu seinem Ärger eiskalt abservierte; Niklas ist eine Affäre, die sie ins Haus einlud und der sich gegenüber Anna sehr provokant verhielt. Allerdings ist der die Ermittlung leitende Staatsanwalt schon früh von ihrer Schuld überzeugt und wiegelt alle anderen Verdachtsmomente ab.

Die Handlung springt kapitelweise zwischen drei Zeitebenen umher, was anfangs etwas gewöhnungsbedürftig ist. Ein Strang spielt in der Zeit vor der Tat und erzählt rückblickend, wie sich Anna und Elise anfreundeten und wie der Urlaub vor dem Mord ablief. Der zweite Strang fokussiert sich auf die Zeit unmittelbar nach der Tat und gibt die ersten Vernehmungen und Annas Zeit in der Untersuchungshaft wieder. Der dritte Strang schließlich widmet sich dem Prozess. Das Geschehen, erzählt aus Annas Sicht, ist spannend und sehr kurzweilig. Annas Hilflosigkeit wird gut vermittelt, und es wird nicht an Wendungen gespart, die die Ereignisse immer wieder ein leicht verändertes Licht rücken. Am Ende wird alles aufgeklärt, und das durchaus auf spektakuläre Weise. Man kann die Auflösung zwar möglicherweise vorher erahnen, doch die meisten Leser werden überrascht werden.

Was ein bisschen fehlt, sind komplexere Charaktere. Gerade der Rest der Clique bleibt blass. Von Mel weiß man, dass sie auf Elise fixiert ist und von dieser zunehmend als lästig empfunden wird, von A.K., dass seine Eltern enorm reich sind und er sehr rasch Misstrauen gegenüber Anna zeigt, von Lamar, dass er möglicherweise mehr für Anna empfindet und länger zu ihr hält als die anderen und von Chelsea, dass sie lange Zeit nicht an Annas Schuld glaubt, dann aber doch Zweifel äußert. Diese Nebenfiguren gehen etwas zu sehr unter; dafür aber ist das Verhältnis zwischen Anna und Elise umso reizvoller, geprägt von einer außergewöhnlichen Intensität, das trotz aller Liebe - oder gerade deswegen - nicht frei von Spannungen ist.

Fazit:

"Dangerous Girls" von Abigail Haas ist ein sehr spannender, leicht zu lesender Jugendthriller, der sich lose an den Meredith-Kercher-Mordfall anlehnt, dann aber zielstrebig seine eigene Richtung verfolgt und eine gelungene Auflösung präsentiert. Abgesehen von den etwas zu blassen Nebenfiguren gibt es keine nennenswerten Schwächen.

16. November 2016

The Walking Dead - Die beste Verteidigung (Band 5)

Produktinfos:

Ausgabe: 2007
Seiten: 148
Buchhandel.de
* * * * *
Der Autor:

Robert Kirkman, Jahrgang 1978, veröffentlichte zu Halloween 2003 das erste Heft der Reihe "The Walking Dead". Mittlerweile erschienen mehr als 150 Hefte, seit 2010 läuft die sehr erfolgreiche TV-Serie dazu. Weitere Comicreihen, an denen Kirkman als Autor beteiligt war sind z. B. Battle Pope, Dieb der Diebe, Tech Jacket und Ultimate X-Men.

Inhalt:

Rick und Glenn entdecken in der Nähe des Gefängnisses einen Helikopter am Himmel, der kurz darauf im Wald abstürzt. Die beiden hoffen, dort Überlebende zu finden und machen sich gemeinsam mit Michonne auf den Weg. Der Helikopter ist jedoch leer. Fußspuren weisen darauf hin, dass jemand anderes vor den dreien dort war und die Helikopter-Insassen mitgenommen hat.

Sie folgen den Spuren und stoßen auf die kleine Stadt Woodbury, in der ein paar Dutzend Überlebende geschützt hinter Mauern leben. Ihr Anführer nennt sich "Governor" und heißt Rick, Glenn und Michonne zunächst willkommen. Irritiert erfahren die drei, dass in Woodbury regelmäßig Arenaspiele mit Kämpfern und Zombies veranstaltet werden, um die Einwohner zu unterhalten.

Wenig später lässt der Governor seine freundliche Maske fallen. Er nimmt Rick, Glenn und Michonne in seine Gewalt und will aus ihnen herauspressen, wo sie ihre sichere Zuflucht haben ...

Bewertung:

Im fünften Sammelband tritt erstmals der Governor auf den Plan, der auch in der TV-Serie eine große Rolle einnimmt. Davon abgesehen driften spätestens hier TV-Serie und Comicvorlage deutlich auseinander. In der TV-Serie sind es Michonne und Andrea, die als Erste auf Woodbury stoßen, und Andrea geht eine Beziehung mit dem Governor ein. Davon kann in der Comicvorlage keine Rede sein, zumal Andrea in den Comics mit Dale liiert ist.

Mit dem Governor kommt ein sehr charismatischer und zugleich höchst gefährlicher Gegener auf den Plan. Woodbury ist an sich eine angenehme Zuflucht, sieht man den perversen Arenaspielen ab. Hier leben Familien in gemütlichen Häusern, die Mauern werden gut von Schützen bewacht. Alles könnte so schön sein, wenn nicht der sadistische Governor hier das Regiment führen würde. Schnell ist klar, dass er vor nichts zurückschreckt - seine Brutalität in den Comics übertrifft noch die in der TV-Serie -, was insbesondere Rick und Michonne erfahren müssen. Während die Szene mit Rick sehr deutlich die Gewalt zeigt, wird diese bei Michonne auf effektive Art angedeutet: Man erfährt, was der Governor mit ihr vorhat und man bekommt Michonne im Anschluss zu sehen, aber die eigentliche Tat wird zumindest visuell ausgeblendet und bleibt der Phantasie des Lesers überlassen. Sehr eindrucksvoll ist Michonnes Reaktion darauf, die noch deutlicher als zuvor demonstriert, was für ein starker Charakter in ihr steckt. Zudem kann sie ihre Loyalität gegenüber Rick unter Beweis stellen, und man erfährt auf dem Weg nach Woodbury ein paar Details zu ihrem Leben vor der Apokalypse wie ihren Beruf und wie sie zu ihrem Katana gekommen ist.

Der Band steht ganz im Zeichen der drohenden Auseinandersetzung zwischen dem Gefängnis und Woodbury. Der Governor ahnt natürlich, dass ein Gefängnis ein noch sicherer Ort zum Leben wäre, und will die Einwohner umsiedeln - selbstverständlich auf Kosten von Ricks Gruppe, die er ausschalten will. Somit stehen die Kämpfe gegen Zombies hier sehr im Hintergrund. Mit dem Governor ist ein Antagonist auf deer Bildfläche erschienen, der auf seine Weise nicht weniger gefährlich ist als die Zombies, die bisher die Bedrohung darstellten. Zwar gab es bereits tödliche Konflikte mit den Gefängnis-Insassen, doch waren dies zumindest nur einzelne Personen, während der Governor genug Leute um sich hat, um zumindest theoretisch das Gefängnis einnehmen zu können - zudem sind die Woodbury-Einwohner gut mit Waffen versorgt und stellen somit eine bisher nicht gekannte Form der Bedrohung dar.

Da die Handlung in Woodbury spielt, bleiben natürlich aus Ricks Gruppe alle außer Rick, Glenn und Michonne außen vor. Somit ist der Band vor allem für die Leser interessant, die eine der drei Figuren besonders schätzen und neugierig darauf sind, wie diese in Extremsituationen reagieren (was man bei Rick zu diesem Zeitpunkt bereits erlebt hat, bei Glenn und Michonne dagegen weniger). Zwei positive neue Charaktere sind Doktor Stevens, der Arzt von Woodbury, der die Handlungen des Governors missbilligt, und seine junge Assistentin Alice. Beide sind sympathisch, und man hofft, dass sie noch eine Weile erhalten bleiben.

Charlie Adlard arbeitet mit Schwarz-Zeichnungen und großzügigen Schattierungen, nicht selten ist ein Drittel eines Gesichtes in Schwarz getaucht. Während insgesamt die meisten TV-Darsteller den Comic-Charakteren ähnlich bis sehr ähnlich sehen, trifft das beim Governor nicht zu, denn der Comic-Governor trägt lange schwarze Haare und einen Bart, sieht etwas wilder und piratenhafter aus als seine TV-Verkörperung David Morrissey.

Fazit:

Auch der fünfte "Walking Dead"-Sammelband ist sehr spannend und unterhaltsam, auch wenn der Fokus nur auf Rick, Glenn und Michonne gerichtet ist und die anderen Figuren ausgeblendet werden. Zum ersten Mal treten der Governor und Woodbury in Erscheinung, was neue Brisanz in die Handlung bringt. Die Auseinandersetzungen mit den Zombies geraten in den Hintergrund, dafür aber fesselt der Konflikt mit dem Governor.

14. November 2016

The Walking Dead - Was das Herz begehrt (Band 4)

Produktinfos:

Ausgabe: 2009
Seiten: 136
Buchhandel.de
* * * * *
Der Autor:

Robert Kirkman, Jahrgang 1978, veröffentlichte zu Halloween 2003 das erste Heft der Reihe "The Walking Dead". Mittlerweile erschienen mehr als 150 Hefte, seit 2010 läuft die sehr erfolgreiche TV-Serie dazu. Weitere Comicreihen, an denen Kirkman als Autor beteiligt war sind z. B. Battle Pope, Dieb der Diebe, Tech Jacket und Ultimate X-Men.

Inhalt:

Zwei der ehemaligen Gefängnis-Insassen sind an Waffen gekommen und bedrohen Ricks Gruppe. Gleichzeitig kommt es zu einem Angriff einer Zombie-Horde, und die Gruppe sieht sich einem gefährlichen Kampf gegenüber.

Kurz darauf erscheint vor dem Gefängnis eine junge Frau, die von Ricks Gruppe aufgenommen wird. Michonne hat sich seit der Apokalypse wochenlang allein durchgeschlagen, bewaffnet mit einem Katana-Schwert. Die Gruppe hat Respekt vor dieser Leistung, ist aber zunächst misstrauisch ihr gegenüber, da Michonne kaum etwas über sich preisgibt.

Der Erste, der ihr näherkommt, ist Tyreese. Als Footballfan erkennt sie in ihm einen ehemaligen Profi-Spieler wieder, und Tyreese fühlt sich zu ihr hingezogen. Das sorgt für Eifersucht bei Carol und führt zu einem dramatischen Ereignis. Rick macht Tyreese Vorwürfe, dieser wiederum kritisiert Ricks übertriebene Härte und seine Alleingänge bei Entscheidungen, die die Gruppe zunehmend irritieren. Der Streit zwischen den beiden eskaliert. Zudem wird einer aus der Gruppe bei der Erkundung des Gebäudes von einem Untoten gebissen ...

Bewertung:


Wie der dritte Sammelband spielt auch der vierte komplett in der Gefängnisanlage, die für Ricks Gruppe ein Zuhause geworden ist. Mit Michonne, der geheimnisvollen und toughen Samurai-Kämpferin, tritt ein neuer, sehr wichtiger und interessanter Charakter auf den Plan.

Gerade an Michonne zeigt sich wieder einmal, dass die TV-Serie die Comic-Figuren teilweise ein wenig bis gravierend anders darstellt. Optisch und grundlegend betrachtet entspricht die Michonne der Comic-Vorlage ganz der Verkörperung durch Danai Gurira: Sie ist eine athletische Farbige um die dreißig, schweigsam und mysteriös. Zombies erledigt sie ohne Wimpernzucken mit ihrem Katana, und als Schutz während ihres Lebens in den Wäldern führte sie zwei Untote an Ketten mit sich, die sie durch Abschlagen der Unterkiefer und der Arme gefahrlos gemacht hatte - andere Zombies griffen sie durch diese Taktik nicht an, da sie offenbar Michonnes menschlichen Geruch dank ihrer Begleiter nicht mehr witterten. Während aber Michonne mit Tyreese in diesem Band eine folgenschwere Affäre eingeht, wäre dies in der TV-Serie schwer vorstellbar. Des Weiteren ist zwar auch die TV-Michonne ein lange Zeit schwieriger Charakter, der niemanden an sich heranlässt, doch im Comic wirkt sie anfangs regelrecht kalt, bezeichnet Andrea grundlos als "Bitch" und hat keine Scheu, Carols Herz zu brechen, indem sie ihr Tyreese ausspannt. Somit ist Michonne zwar aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihrer Rätselhaftigkeit in diesem Band ein reizvoller, aber noch nicht unbedingt sympathischer Charakter, was sich aber später noch ändern wird.

Neben Michonne ist der Konflikt zwischen Rick und Tyreese das zweite wichtige Thema des Bandes. Bis vor Kurzem waren die beiden noch gute Freunde, Tyreese unterstützte Ricks Entscheidungen. Damit ist vorerst Schluss, und man darf gespannt sein, ob und inwieweit sie sich in den nächsten Bänden wieder annähern werden. Ein Auslöser für den Konflikt ist Tyreeses Betrug an Carol, was sicherlich eine der bis hierhin emotionalsten Szenen darstellt. Carol erschien von Beginn an labiler als andere Frauen der Gruppe, in Tyreese fand sie eine bedeutsame Stütze, sodass der Betrug viel Mitgefühl beim Leser auslöst.

Das dritte wichtige Thema ist die Bissverletzung eines Gruppenmitglieds. Im Gegensatz zu anderen Zombie-Welten ist es bei "The Walking Dead" nicht so, dass erst ein Zombiebiss eine Verwandlung auslöst - jeder Überlebende ist automatisch infiziert (wodurch dies geschehen ist, ist bislang unbekannt und wird laut Robert Kirkman eventuell/vermutlich auch nie aufgelöst werden) und verwandelt sich somit nach seinem Tod, selbst wenn dieser auf natürliche Art erfolgen sollte. Der Biss löst allerdings hohes Fieber aus, das bislang nach einer Weile zum Tod führte. Es bleibt aber Raum für Hoffnung, dass man dieser Infektion vielleicht durch schnelle Maßnahmen entgegenwirken kann und dass man einen solchen Biss vielleicht, je nach Behandlungsmethode und Bissstelle, überleben kann. Somit steht dieser Band auch sehr im Zeichen dieser Frage, und man bangt um die gebissene Person.

Wieder einmal gelungen sind Charlie Adlards düstere Zeichnungen. Die Hintergründe sind zwar recht einfach gehalten und erreichen nicht die Detailfreudigkeit seines Vorgängers Tony Moore, allerdings hatte Moore aufgrund dieser Genauigkeit auch zunehmend Probleme, die Zeitpläne einzuhalten. Man darf bei Adlards Zeichnungen keine allzu hohen Ansprüche an die Ästhetik haben, keine ausgefeilten Hintergründe erwarten, aber man sieht, dass er sein Handwerk sehr gut versteht.

Fazit:

Sehr unterhaltsamer, spannender und bewegender vierter Sammelband. Mit Michonne tritt ein sehr interessanter neuer Charakter auf den Plan, und auch das Gefängnissetting ist weiterhin reizvoll.

7. November 2016

Survive (Du bist allein) - Alexandra Olivia

Produktinfos:

Ausgabe: 2016
Seiten: 416
Buchhandel.de
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Die Autorin:

Alexandra Oliva aus den USA hat einen Bachelor in Geschichte und Kreatives Schreiben studiert und besitzt viel Erfahrung mit Survivaltrainings. "Survive" ist ihr Debütroman, der gleich zu einem internationalen Bestseller wurde.

Inhalt:

"Im Dunkeln" heißt die neue Reality-Survival-Show, die in den USA für Furore sorgt. Zwölf Männer und Frauen werden in einem felsigen Waldgebiet ausgesetzt und müssen vor laufenden Kameras Challenges erfüllen, die sie an ihre seelischen und körperlichen Grenzen bringen sollen, dem Sieger winkt eine Million Dollar.

Die ersten Aufgaben sind Team-Challenges, bei dem die Kandidaten in unterschiedlichen Konstellationen zusammenarbeiten müssen. Schnell zeigt sich, dass hier sehr verschiedene Charaktere aufeinanderprallen. Konflikte bleiben nicht aus, allerdings entstehen auch Freundschaften. Manche Kandidaten präsentieren sich als Teamplayer, andere verhalten sich egoistischer. Schon bald werden sie mit Hunger, Durst, Erschöpfung und kleinen Verletzungen konfrontiert.

Nach den Team-Aufgaben erhält jeder Kandidat seine große Einzel-Challenge. Während sie sich durch die Wälder schlagen, ahnen sie nicht, dass in der Zwischenzeit in der Zivilisation eine hochgefährliche Krankheit ausgebrochen ist, die große Teile der Weltbevölkerung auslöscht. Als Zoo, eine der Kandidatinnen, keine Kameraleute mehr sieht und dafür auf verlassene Ortschaften stößt, glaubt sie, das gehöre zur Show ...

Bewertung:

Abenteuerflair trifft Thriller in Alexandra Olivas "Survive", das spannende Unterhaltung präsentiert. Ohne Frage ist "Im Dunkeln" eine der härteren Castingshows, wenn man nicht gerade Survivalexperte oder zumindest Pfadfinder ist. Das merken rasch auch die zwölf Kandidaten, ein bunt zusammengewürfelter Haufen, von denen jeder durch sorgsame Vorauswahl und geschickte Regie in eine bestimmte, klischeehafte Rolle samt bezeichnendem Spitznamen gesteckt wird.

"Tracker" beispielsweise ist der mysteriöse, schweigsame und toughe Favorit, der sich in der Wildnis mühelos zurechtfindet; "Kellnerin" ist die sexy Schönheit, die nur wegen ihrer Optik gecastet wurde und sehr bald an ihre Grenzen gerät; "Exorzist" ist der unberechenbare Exzentriker und Protagonistin "Zoo" die Tierfreundin und die geschickteste unter den Frauen, die ein letztes Abenteuer erleben möchte, bevor die Familienplanung ansteht. Die Charaktere sind nicht von Anfang an durchschaubar und machen auch gewisse Entwicklungen durch; man kann sich nicht sofort festlegen, wer Sympathieträger und Teamplayer sein wird und wer sich im weiteren Verlauf hinterhältig oder gar gefährlich verhalten wird.

Die Handlung spielt auf zwei Zeitebenen: Abwechselnd sprechen ein allwissender Erzähler zu Beginn der Show und Zoo zu einem ein paar Wochen späteren Zeitpunkt zum Leser.Der Leser weiß mehr als die Teilnehmer, aber auch nicht alles. Im Gegensatz zu Zoo weiß man, dass eine Pandemie ausgebrochen ist und dass die verlassenen Häuser und Läden mitnichten von den Showmachern inszeniert sind, sondern Teil der schrecklichen Realität. Allerdings weiß man nicht, wie die Krankheit entstanden ist, wie sie bekämpft werden kann, wie sich die Zivilisation konkret dagegen wappnet und was Zoo schließlich erwartet, wenn sie sich zu ihrem Heimatort durchgeschlagen hat.

In der ersten Hälfte bezieht der Roman seine Spannung vor allem aus den Survivalaufgaben, die Konflikte und Gefahren heraufbeschwören. Es ist reizvoll, zu verfolgen, wie die Kandidaten die körperlich wie geistig fordernden Aufgaben zu erfüllen versuchen, wie sie mit Hunger, Durst, mit Kälte, Nässe, Dunkelheit und Verletzungen umgehen, wer sich mit wem verbündet, wer die Nerven verliert und wer sich unerwartet fair verhält. Die Manipulationen der Showmacher lassen zudem Medienkritik mitschwingen; ohne jede Scham wird hinter den Kulissen dafür gesorgt, dass die Kandidaten sympathischer oder unsympathischer erscheinen oder dem Publikum brisanter Diskussionsstoff für Facebook und Co geliefert wird, indem bestimmte Situationen provoziert und andere herausgeschnitten werden.

Die zweite Hälfte konzentriert sich zunehmend auf Zoos Heimweg und ihre Konfrontation mit der Katastrophe, die sie lange Zeit nicht als solche erkennt. Hier dominieren weniger die knisternde Spannung der ersten Hälfte als vielmehr Zoos berührende Gefühlswelt und die bewegende Offenbarung, welches Leid die Welt in der Zwischenzeit erfahren hat. In diesem zweiten Teil liegt aber auch eine kleine Schwäche des Buches. Gewiss ist es verständlich, dass Zoo zunächst einige Szenen fehlinterpretiert und an Inszenierungen glaubt. Unrealistisch wird dies aber zunehmend, als sie sich mit dem Teenager Brennan zusammenschließt, der seine Familie in der Katastrophe verloren hat. Er ahnt nicht, dass Zoo die vergangenen Wochen in der Wildnis verbracht hat und setzt voraus, dass sie über alles informiert ist, während sie auch nach längerer Zeit nicht erkennt, über was er spricht und ihn für einen Statisten der Show hält. Sicher ist sie zu diesem Zeitpunkt abgestumpft, trotzdem wirkt es sehr konstruiert, dass sie so lange mit ihm unterwegs ist und nicht begreift, dass die Show längst vorbei ist; ebenso wirkt es unglaubwürdig, dass sie Brennan in all der Zeit nie auf die Show und seine angebliche Rolle anspricht.

Das Ende dürfte für manche Geschmäcker einen Hauch zu offen sein, grundsätzlich aber wird alles Wichtige gesagt und man kann gut erschließen, wie die Handlung weiterverlaufen wird.

Fazit:

"Survive" von Alexandra Oliva ist ein gelungener, atmosphärischer Thriller, der spannend und zugleich bewegend ist. In der zweiten Hälfte bleibt die Glaubwürdigkeit ein wenig auf der Strecke, was den Gesamteindruck leicht trübt.

20. Oktober 2016

Das Ufer - Richard Laymon

Produktinfos:

Ausgabe: 2016 bei Heyne Hardcore
Seiten: 592
Buchhandel.de
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Der Autor:

Richard Laymon, 1947-2011, wurde in Chicago geboren und ist einer der meistverkauften Horrorautoren der USA. Er studierte englische Literatur und arbeitete unter anderem als Lehrer und Bibliothekar, ehe er sich dem Schreiben widmete. Er verfasste mehr als dreißig Romane, die überwiegend erst nach seinem Tod in Deutschland erschienen. Weitere Werke sind u. a. "Rache", "Die Insel", Das Spiel", "Die Show" und "Die Familie".

Inhalt:

Die achtzehnjährige Leigh West verbringt 1969 den Sommer bei Onkel und Tante am Lake Wahconda. Dort verliebt sie sich in den gleichaltrigen Charlie. Die Sommerromanze endet mit einem furchtbaren Unglück, bei dem Charlie ums Leben kommt. Kurz darauf stellt Leigh fest, dass sie schwanger ist.

Achtzehn Jahre später: Leighs Tochter Deana ist mittlerweile im gleichen Alter wie ihre Mutter damals und mit Allan liiert. Bei einem romantischen Zusammensein werden sie von einem Unbekannten angegriffen und Allan getötet. Deana kann sich retten, doch schon bald darauf meint sie, das Auto des Täters vor ihrem Haus zu sehen.

Officer Mace Harrison übernimmt die Ermittlungen und schenkt Leigh durch seine selbstbewusste, tatkräftige Art eine gewisse Sicherheit. Leigh fühlt sich zu ihm hingezogen, Deana dagegen sieht die Annäherung der beiden mit Argwohn. Tag und Nacht sind Deana und Leigh von nun an in Angst vor dem irren Mörder. Warum hat er gerade Deana und ihren Freund als Opfer gewählt? Gibt es etwa einen Zusammenhang zu Leighs Erlebnis vor achtzehn Jahren ...?

Bewertung:

Ein Mutter-Tochter-Gespann steht im Fokus von Richard Laymons Horrorroman "Das Ufer", einem für ihn recht typischen Werk, das sich im unspektakulären Mittelfeld seines Schaffens einfügt. Wie alle seine Bücher liest sich der Roman leicht, und man behält trotz der zwei ineinander verwobenen Handlungsstränge gut den Überblick. Reizvoll ist insbesondere der Vergangenheitsstrang, der die Geschichte der achtzehnjährigen Leigh erzählt. Das Anbändeln zwischen ihr und dem linkischen, unerfahrenen Charlie wird recht ansprechend präsentiert; Charlies schreckliches Schicksal ist durchaus bewegend, ebenso wie Leighs Kummer darüber.

Sowohl Leigh als auch Deana sind grundsätzlich sympathisch; gern möchte man beide am Ende gerettet sehen, und auch das enge Verhältnis der beiden zueinander wird schön dargestellt. Eine gewisse Spannung ergibt sich aus den Fragen, wer Deana nach dem Leben trachtet, ob es Zusammenhänge zu Charlies Tod damals gibt und wie sich das Verhältnis zwischen Leigh und Officer Mace entwickelt - denn der Leser weiß, anders als Leigh und Deana, dass er auch seine sehr dunkle Seite verbirgt. Bezüglich zwei, drei Nebencharaktere darf man rätseln, wie sie wirklich zu Leigh und Deana stehen, ob sie das sind, was sie vorgeben, oder ob es noch zu weiteren unliebsamen Überraschungen kommt. Es gibt ein paar blutige Actionszenen, wenn auch keinen richtigen Splatter, und man muss auch über keinen besonders robusten Magen verfügen, um der Handlung folgen zu können - in dieser Hinsicht gibt es definitiv heftigere Romane von Laymon.

Wenn man nicht mehr mehr erwartet als ein paar Metzeleien und die Flucht vor (mindestens) einem irren Mörder, wird man hier solide unterhalten. Allerdings sind die Charaktere ziemlich flach geraten, frei von jeder Nachhaltigkeit. "Das Ufer" ist eine Lektüre, die zwar für den Augenblick leidlich unterhalten kann, danach aber sehr schnell abgehakt ist - und selbst während der Lektüre ist man nicht unweigerlich so sehr gefesselt, dass man das Buch nicht problemlos zwischendurch beiseite legt.

Übertrieben wie eigentlich immer bei Richard Laymon ist die ausgeprägte Sexualität der Figuren und das Betonen der körperlichen Vorzüge der weiblichen Personen. Wer schon andere Werke des Autors gelesen hat, kennt diese Marotte, wer zum ersten Mal damit konfrontiert wird, reagiert möglicherweise genervt aufgrund der Penetranz. Gegen Ende kommt eine übersinnliche Fähigkeit ins Spiel, die das Geschehen beeinflusst, was sehr konstruiert wirkt und nicht in den Rest der Handlung passt. Insgesamt hat der Autor durchaus schlechtere Bücher verfasst, allerdings auch bessere.

Fazit:


"Das Ufer" ist ein leicht unterdurchschnittlicher bis durchschnittlicher Laymon-Roman, der sich als anspruchslose Lektüre eignet, wenn man nicht viel mehr als oberflächliche Spannung erwartet. Der Vorteil liegt darin, dass man sich nicht wirklich konzentrieren muss und das Buch schnell zu lesen ist; ebenso ist ein gewisser Unterhaltungsfaktor vorhanden. Grundsätzlich ist das Werk aber nur Fans des Autors zu empfehlen, da das Genre viele bessere Alternativen bietet.

21. September 2016

Die Feinde (Band 1) - Charlie Higson

Produktinfos:

Ausgabe: 2014 bei Heyne
Seiten: 480
Buchhandel.de
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Der Autor:

Charlie Higson, Jahrgang 1958 (England), ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Schauspieler und Sänger. Bekannt wurde er vor allem durch seine "Young Bond"-Romane, die Geschichten über den jugendlichen James Bond erzählen.

Inhalt:

Ohne Vorwarnung wird London von einer Epidemie befallen, die nur Erwachsene betrifft. Die Infektion verwandelt die Menschen in blutrünstige Bestien, die Jagd auf die Kinder machen. Viele sterben, doch einigen gelingt es, sich in Gebäuden zu verstecken und zu verbarrikadieren.

Eine Gruppe von Kindern hat sich in einem Kaufhaus verschanzt. Regelmäßig beschaffen Suchtrupps neue Nahrungsmitteln. Mit der Zeit jedoch wird es immer schwieriger, in der Umgebung Lebensmittel zu finden; zudem gibt es bei den Kämpfen gegen die Erwachsenen immer wieder Opfer.

Eines Tages trifft ein Junge ein, der ihnen von einer sicheren Zuflucht erzählt - dem Buckingham Palast. Er und viele andere Kinder haben sich dort eingerichtet und suchen neue Gruppenmitglieder. Das klingt verlockend, aber der Weg quer durch London ist äußerst gefährlich ...

Bewertung:

Charlie Higsons Auftakt seiner Feinde-Reihe ist eine leichte Variation des üblichen Zombieschemas: Die "Zombies" sind hier keine zum Leben erwachten Toten, sondern kranke Menschen, die zudem älter als vierzehn Jahre sind. Bisse der Infizierten führen oft zum Tod, lösen aber keine Verwandlung aus. Die Protagonisten sind ausnahmslos Kinder, was für einen Horrorroman eine interessante Abwechslung darstellt. Das Szenario erinnert an Williams Goldings "Herr der Fliegen", so sich Kinder allein auf einer Insel durchschlagen müssen, oder auch an Michael Grants "Gone"-Reihe, in der plötzlich alle Menschen über fünfzehn Jahren verschwinden. Harmlos und brav wird der Inhalt durch die Fokussierung auf Kinder gewiss nicht, im Handlungsverlauf müssen einige der Gruppenmitglieder ihr Leben lassen.

Die Geschichte, die ja freilich nur den Anfang einer insgesamt siebenteiligen Reihe erzählt, ist grundsätzlich spannend. Für Kinder ist es ungleich schwerer, in einer postapokalyptischen Welt zu überleben, als für erwachsene Protagonisten - die jüngsten unter ihnen können nur wenig Nützliches beitragen, allen Kindern fehlen technische und medizinische Experten, die das Überleben erleichtern würden. Dennoch schlagen sie sich beachtlich, werden nach und nach immer härter und abgebrühter. Ungefähr nach dem ersten Drittel bestimmt der Aufbruch zum Buckingham Palast das Geschehen. Die Kaufhausgruppe ist sich uneins darüber, ob dieser riskante Weg wirklich angebracht ist. Nicht nur, dass sie einige Kilometer unsicheres Terrain zu Fuß durchqueren müssen, sie wissen auch nicht, ob und inwieweit sie dort überhaupt willkommen geheißen werden und ob es dort tatsächlich so sicher ist, wie der Junge mit der Patchwork-Jacke erzählt, der sie dorthin führen will. Spätestens an dieser Stelle wird offenkundig, dass nicht nur die Erwachsenen ein Problem in dieser Welt darstellen, sondern auch die Kinder - man weiß nicht, wem man noch trauen kann, und es bilden sich in wichtigen Fragen immer wieder mehrere Lager mit unterschiedlichen Ansichten, ganz zu schweigen von rivalisierenden Banden aus der gleichen Gegend, die die gleichen Ressourcen beanspruchen.

Der Roman wird ab zwölf Jahren empfohlen, wobei diese Grenze schon recht niedrig angesetzt ist. Es gibt zwar keine Splatterszenen, allgemein wird die Brutalität eher angedeutet als explizit dargestellt, aber die harte Thematik richtet sich eher an Jugendliche ab etwa vierzehn, fünfzehn Jahren. Auch erwachsene Leser, die ein Faible für Zombieromane und postapokalyptische Szenarien haben, werden bei "Die Feinde" solide unterhalten. Zu den Schwächen zählt eine gewisse Langatmigkeit, die sich zwischendrin bisweilen einstellt. Das liegt vor allem daran, dass es lange dauert, bis einem die Figuren ans Herz wachsen. Man kann zwar schnell die Namen und grundlegende Charakterzüge zuordnen, aber wirklich einprägsam ist keiner von ihnen. Todesfälle unter den Kindern lassen einen nicht kalt, doch es mangelt an markanten Protagonisten, die zum intensiven Mitfiebern einladen. Sicher gibt es reizvolle Figuren, wie etwa die toughe Maxie, die in die Rolle der Anführerin hineinwächst, oder Small Sam, der von der Gruppe getrennt wird. Doch es dauert auch bei diesen Charakteren, bis sie diesen Reiz erlangt haben.

Über den Ausbruch der Seuche und die erste Zeit danach erfährt man nur wenig. Die Handlung setzt einige Monate nach Ausbruch der Epidemie ein, sodass man die Kinder bereits recht abgeklärt erlebt; dabei wäre es sicherlich interessant gewesen, die Entwicklung mitzuerleben. Es ist nachvollziehbar, dass die Kinder aufgrund ihrer Lage älter wirken, als sie sind; allgemein verhalten sie sich aber etwas zu erwachsen, für Weinerlichkeit und Ängste ist nur sehr wenig Raum.

Dass am Ende einige offene Fragen bleiben, ist beim Auftakt einer Reihe kaum zu verhindern. Schade ist nur, dass bislang (Stand Herbst 2016) noch keine weiteren Bände auf Deutsch erschienen sind. Wer nicht auf unbestimmte Zeit mit den Fortsetzungen warten will, muss somit auf Englisch ausweichen.

Fazit:

"Die Feinde" von Charlie Higson bildet den soliden Auftakt einer auch für Jugendliche geeigneten Zombiereihe, die den Fokus auf Kinder legt. Die Handlung ist recht unterhaltsam und nicht zu blutig, macht auch durchaus neugierig auf die weiteren sechs Bände. Allerdings gibt es gerade, was die Charaktere angeht, noch Luft nach oben.

8. September 2016

Teufelstritt - Ursula Hahnenberg

Produktinfos:

Ausgabe: 2016 bei Goldmann
Seiten: 319
Buchhandel.de
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Die Autorin:

Ursula Hahnenberg, Jahrgang 1974, studierte zunächst Forstwissenschaften, ehe sie sich dem Schreiben widmete. Sie arbeitet heute als Lektorin und Autorin, der nächste Kriminalfall um die Försterin Julia Sommer ist bereits in Planung.

Inhalt:

Julia Sommer erhofft sich mit ihrem Berufsantritt als neue Försterin im Ebersberger Forst bei München einen Neuanfang. Es ist der Wald, den auch schon ihr Vater betreute, in dessen Fußstapfen sie nun treten will. Mit ihr leben hier ihr sechsjähriger Sohn Florian und ihre Großmutter, die sie nach dem frühen Unfalltod ihrer Eltern großgezogen hat. Doch Julias Chef Ludwig Voss entpuppt sich als schmieriger Macho, der sie belästigt.

Einen Tag nach einem besonders unangenehmen Zwischenfall hört Julia während der Jagd Schüsse im Wald - und findet die Leiche von Ludwig Voss. Schon bald gehen im Dorf Gerüchte um, dass sie die Mörderin sei. Auch für die Polizei gerät sie mehr und mehr in den Fokus, da sie Motiv und Gelegenheit hatte.

Je weiter die Ermittlungen voranschreiten, desto feindseliger reagieren die Dorfbewohner. Julia stellt auf eigene Faust Nachforschungen an und stößt dabei auf dunkle Geheimnisse der Vergangenheit, die schließlich auch den Tod ihrer eigenen Eltern betreffen ...

Bewertung:

Im fiktiven bayerischen Ort Grafenried bei München siedelt Ursula Hahnentritt ihr Romandebüt um die Försterin Julia Sommer an, für die bereits weitere Bände in Planung sind.

Der Kriminalfall vermischt sich nach und nach mit Julias dramatischer Familiengeschichte. Sie erfährt, dass Ludwig Voss mehr über den Tod ihrer Eltern wusste und dass auch andere Dorfbewohner darüber schweigen. Julia spürt die Abneigung der Grafenrieder, ihre einzige Freundin ist die stille Mesnerin Teresa, was sich nach dem Mord an Voss noch verstärkt. Es gibt eine Handvoll Verdächtiger, etwa Ludwig Voss' junge Geliebte und ihr zwielichtiger Begleiter, auch der Pfarrer, Voss' bester Freund, verhält sich auffällig, indem er Julia seinen Hass ihr gegenüber deutlich demonstriert. Die dörfliche Gemeinschaft, die über Jahrzehnte hinweg Geheimnisse bewahrt und Fremden gegenüber verschlossen bis ablehnend auftritt, bildet den passenden Rahmen für die Handlung. Die Sage vom Teufelstritt kennt man vor allem von der Frauenkirche in München, hier allerdings wird die Variante der Maria-Empfängnis-Kirche von Zullingen als Inspiration für die Grafenrieder Dorfkirche gewählt. Das dörfliche Flair, die Verschwiegenheit der Einwohner und die Waldlandschaft werden gut charakterisiert; der fiktive Ort selbst hätte noch etwas mehr ausschmückende Details vertragen.

Überzeugend dargestellt wird Julias Leidenschaft für ihren Beruf als Försterin. Hier kommt der Autorin zugute, dass sie selbst Forstwissenschaften studiert hat und dem Leser anschaulich den Berufsalltag vermitteln kann. Julia hat den Beruf zwar zunächst ergriffen, um so ihrem verstorbenen Vater nachzueifern, doch auch ihre Liebe zur Natur und zum Wald wird offenkundig. So ungewöhnlich der Beruf für eine junge Frau auch ist, man versteht Julias Faszination und ihren Wunsch, das Gleichgewicht der Natur zu erhalten. Dazu gehört auch die Jagd, die Julia betreiben muss, was für die zum Erhalt des Gleichgewichtes dazugehört. Während Julia zum Wohle der Tier- und Pflanzenwelt auf die Jagd geht, reist ihr Vorgesetzter Ludwig Voss gern auf Safaris, was ihn ihr nur noch unsympathischer macht. Erzählt wird die Handlung in einem flüssigen Stil, der zusätzlich zum nicht allzu dicken Umfang von gut dreihundert Seiten eine sehr schnelle Lektüre ermöglicht.

Der Roman offenbart allerdings auch ein paar Schwächen, die vor allem in der Hauptfigur begründet liegen. Für den Leser ist es alles andere als leicht, sich mit Julia zu solidarisieren, da ihr Verhalten immer wieder verwirrt und befremdet. Sie benimmt sich oft sehr naiv und trägt viel dazu bei, ihren Status als Hauptverdächtige noch zu bestätigen. Die Tatwaffe stammt aus Julias Besitz, was sie der Polizei erst mitteilt, als die Wahrheit unausweichlich ist. Als Julia anonyme (Mord-)Drohungen über Facebook erhält, löscht sie diese, anstatt die Polizei darüber zu informieren. Ein anderes Mal findet sie ein weiteres Mordopfer, berührt dieses und unterlässt es anschließend, die Polizei zu informieren - obwohl ihr klar sein müsste, dass man durch Untersuchungen auf sie stoßen kann.

Auch sonst verhält sich Julia gegenüber ihren Mitmenschen oft nicht gerade kooperativ. So verspätet sich ständig beim Kindergarten ihres Sohnes, wenn sie ihn hinbringt oder abholt, und nimmt dies kurz nach einer Ermahnung der Erzieherin erneut in Kauf, obwohl sie genau wissen müsste, dass sie Ärger provoziert. Als ihr Handy gestohlen wird, informiert sie den Vater ihres Sohnes nicht sogleich darüber. Der Dieb bombardiert ihn daraufhin mit Terroranrufen, die Julias Ex Markus ihr zuschreibt, da ihre verspätete Erklärung, ihr Handy sei gestohlen worden, wie eine Ausrede klingt. Ein anderes Mal rutscht ihr gegenüber einer Person ganz direkt eine Mordanschuldigung heraus, die sie anschließend lapidar entschuldigt. Generell wird Julia zwar übel mitgespielt von den Dorfbewohnern, sie macht es einem andererseits aber auch nicht leicht, sie für unschuldig zu halten und mit ihr zu sympathisieren.

Neben diesen Verhaltensweisen fällt bisweilen störend auf, dass Julias Reaktionen teilweise unpassend zur Lage sind. Vor allem in einer sehr dramatischen Situation, in der es um Leben und Tod geht, wirken ihre Gedanken zu sachlich. Zudem fallen Julias Ermittlungsergebnisse sehr dezent aus. Der entscheidende Schlüssel zum Täter fällt ihr in Form eines alten Tagebuchs in die Hände, und zwar durch einen glücklichen Zufall, ohne dass sie dafür etwas tun muss. Die Entlarvung des Täters ist am Schluss keine große Überraschung; auch vorher findet man bereits Hinweise. Das Motiv wiederum ist überzeugend, und die Verquickung zwischen Gegenwart und Vergangenheit ist gut gelungen.

Fazit:

Mit "Teufelstritt" legt Ursula Hahnenberg ein solides Krimidebüt vor, das recht gut unterhält und sich flüssig liest. Überzeugend ist die Verbindung zwischen Gegenwart und der Jahrzehnte zurückliegenden Vergangenheit. Allerdings liegen vor allem im Verhalten der Protagonistin auch einige Schwächen; hier ist noch Luft nach oben für die weiteren Bände.

7. September 2016

Die Schwester - Joy Fielding

Produktinfos:

Ausgabe: 2016 bei Goldmann
Seiten: 448
Buchhandel.de
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Die Autorin:

Joy Fielding, geboren 1945 in Toronto, Kanada, hatte bereits in ihrer Kindheit großes Interesse am Schreiben. Vor ihrer Karriere als Schriftstellerin studierte sie englische Literatur und arbeitete eine Weile als Schauspielerin. 1991 gelang ihr mit dem Roman "Lauf Jane, lauf" der internationale Durchbruch. Seitdem landen ihre Frauenthriller regelmäßig auf den Spitzenpositionen der Bestsellerlisten. Weitere Werke sind u. a. "Sag Mammi goodbye", "Ein mörderischer Sommer", "Schlaf nicht, wenn es dunkel wird" und "Tanz Püppchen, tanz".

Inhalt:


Caroline Shipley und ihr Mann Hunter verbringen anlässlich ihres zehnten Hochzeitstages eine Woche mit ihren beiden Töchtern, der zweijährigen Samantha und der fünfjährigen Michelle, in einem Luxushotel in Mexiko. Mit dabei sind auch zwei befreundete Paare sowie Carolines Schwester und deren Mann.

Am letzten Abend ist kein Babysitter für die Kinder verfügbar. Zögernd lässt sich Caroline von ihrem Mann überreden, die Mädchen allein auf dem Zimmer zu lassen, während die Erwachsenen im Hotelrestaurant essen. Alle halbe Stunde schauen die Eltern abwechselnd nach den Mädchen. Alles läuft gut - bis Samantha um zehn Uhr plötzlich aus ihrem Bett verschwunden ist. Das Hotel und die Umgebung werden sofort abgesucht, doch das Mädchen bleibt unauffindbar.

Fünfzehn Jahre später: Die Ehe der Shipleys ist unter den Belastungen zerbrochen, Hunter hat eine neue Familie. Das Verhältnis zwischen Caroline und der inzwischen erwachsenen Michelle ist distanziert; zudem leidet Caroline unter den unverhohlenen Anfeindungen von Polizei und Medien. Doch auf einmal bekommt Caroline einen Anruf von einer jungen Frau namens Lili. Lili glaubt, dass sie Samantha ist ...

Bewertung:

2007 schlug er bis heute ungeklärte Vermisstenfall Madeleine McCann weltweit hohe Wellen, und schnell wird offensichtlich, dass sich Joy Fieldings Thriller an die Ausgangsposition dieser wahren Begebenheit anlehnt, wenngleich Details natürlich verfremdet wurden. Maddie verschwand aus einem Hotelzimmer in Portugal, während ihre Eltern mit Freunden im Hotelrestaurant aßen. Maddies Eltern schlug einerseits eine Welle von Mitleid, andererseits auch offene Abneigung und Misstrauen entgegen; die Beschuldigungen decken alle Bandbreiten von vernachlässigter Sorgfaltspflicht bis Involvierung in das Verschwinden des Kindes ab.

"Die Schwester" ist freilich ein fiktives Werk, das sich von Ausgangsszenario und dem Medienecho inspirieren lässt. Joy Fieldings Roman konzentriert sich auf die Sichtweise von Mutter Caroline. Von Beginn an weiß der Leser, dass sie unschuldig ist und nichts mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun hat. Allerdings ist es gerade sie, die am meisten unter dem Geschehen zu leiden hat. Während die Medien Hunter eher wohlwollend begegnen, berichten sie sehr kritisch über Caroline. Ihren Schockzustand interpretieren sie als kühle Distanziertheit, ihr Aussehen wird über die Jahre hinweg mit spitzer Zunge kommentiert, schließlich gibt es sogar offene Beschuldigungen, sie habe ihre Tochter umgebracht. Der Hotel-Babysitterin wurde nach deren Angaben an jenem Abend von einer weiblichen Person telefonisch abgesagt; Caroline beteuert zwar, nichts damit zu tun zu haben, doch sowohl Ermittler als auch Medien zweifeln an ihrer Version. Auch nach Jahren wird Carolines Leiden nicht kleiner; Hunter verlässt sie für eine jüngere Frau, und ihre Versuche, wieder als Lehrerin zu arbeiten, enden mehrmals in demütigenden Fiaskos. Vorwürfe kommen auch von Carolines Mutter, die ohnehin seit jeher Carolines Bruder Steve bevorzugt. Der Leser ist somit schnell auf Carolines Seite und leidet mit jeder weiteren Gemeinheit mit ihr.

Für solide Spannung sorgt die Frage nach Samanthas Verbleib und ob es sich bei der jungen Lili möglicherweise tatsächlich um das vermisste Mädchen handelt. In Zeiten der DNA-Analyse kann das zwar zweifelsfrei geklärt werden, doch der Weg bis dahin ist weit, denn Lili wohnt in Kanada und sie muss wenn gegen den Willen ihrer Familie zu Caroline reisen. Caroline wiederum schwankt zwischen Misstrauen und Hoffnung. Michelle möchte ein Zusammentreffen mit Lili verhindern, da sie fürchtet, dass es sich um eine Hochstaplerin handelt, die bloß etwas Publicity sucht und nach dem negativen DNA-Bescheid eine zerstörte Caroline zurücklassen wird. Zudem gibt es im Verlauf gewisse Enthüllungen, die Caroline schmerzhaft aufzeigen, dass sich einige Dinge an jenem Abend anders abspielten, als von ihr gedacht.

Dennoch ist der Roman eher Familiendrama als Thriller. Im Vordergrund stehen vor allem die psychischen Folgen, die Samanthas Entführung für die Familie und insbesondere Caroline hatten, sowie das komplizierte Verhältnis von Michelle und ihrer Mutter. Michelle leidet unter dem Empfinden, dass mit Samantha die liebere, einfachere Schwester verschwunden ist und ihr eigenes Verschwinden nie den gleichen Schmerz bei Caroline hervorgerufen hätte. Lilis Auftauchen verstärkt die Probleme, da Michelle dadurch noch deutlicher vor Augen geführt wird, dass sie sich hinter Samantha zurückgesetzt fühlt. Wenn man einen Thriller erwartet, der sich auf den Kriminalfall konzentriert und in dem die Protagonistin womöglich in Gefahr schwebt, kann man leicht enttäuscht werden; erst recht, da das Ende doch ziemlich zahm verläuft.

Fazit:


"Die Schwester" von Joy Fielding ist ein unterhaltsamer Roman, dessen Ausgangssituation sich grob an einem realen Vermisstenfall orientiert. Der Thrilleranteil fällt geringer aus als bei anderen Fielding-Büchern, Hochspannung darf man nicht unbedingt erwarten und trotz gewisser Wendungen ist der Schluss recht harmlos.

26. August 2016

Anders - Anita Terpstra

Produktinfos:

Ausgabe: 2016 bei Blanvalet
Seiten: 384
Buchhandel.de
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Die Autorin:

Anita Terpstra aus den Niederlanden, Jahrgang 1975, studierte zunächst Journalismus und Kunstgeschichte und arbeitete als Journalistin. Ihre weiteren Werke sind bislang (Stand 2016) noch nicht auf Deutsch erschienen.

Inhalt:


Die Meesters aus den Niederlanden sind scheinbar eine glückliche Familie wie aus dem Bilderbuch - Mutter Alma, Vater Linc, die fünfzehnjährige Iris und der elfjährige Sander. Das Leben der Familie ändert sich jedoch mit einem Schlag, als Sander während einer Ferienlager-Nachtwanderung mit seinem besten Freund verschwindet. Der Freund wird kurz darauf tot im Wald gefunden, von Sander gibt es keine Spur.

Sechs Jahre später taucht ein Junge bei der Polizei auf und gibt sich als der vermisste Sander aus. Er erzählt, dass er von einem Mann in einem Wald gefangen gehalten und missbraucht wurde, ehe der Mann verstarb und er somit endlich gehen konnte. Alles deutet darauf hin, dass es tatsächlich Sander ist, und er wird wieder mit seiner Familie vereint.

Vor allem Alma ist überglücklich, ihren Jungen wiederzuhaben, während Iris ihrem nun siebzehnjährigen Bruder eher distanziert begegnet. In den nächsten Wochen bemüht sich die Familie, Sander in sein neues Leben einzugewöhnen. Doch nach dem ersten Überschwang kommen Alma allmählich Zweifel: Sagt Sander in allen Belangen die Wahrheit, oder hat er etwas zu verbergen? Immer mehr deutet sich an, dass Sanders Geschichte nicht in allem stimmig ist ...

Bewertung:


Die meisten Entführungsthriller befassen sich intensiv mit der Suche nach dem Opfer und dem Täter. "Anders" von Anita Terpstra ist tatsächlich anders, denn die eigentliche Handlung setzt erst ein, als das Opfer wieder aufgetaucht ist. Der Roman dreht sich einerseits um die Probleme, die neben der ersten Freude durch eine solch überraschende Wende entstehen, andererseits dreht er sich um die Suche nach der Wahrheit, was in jener Nacht wirklich geschah und ob Sander tatsächlich (nur) Opfer war.

Der erste Punkt ist eher Familiendrama denn Thriller. Natürlich herrscht erst einmal große Freude bei den Meesters, schließlich hatte kaum noch jemand gehofft, Sander lebend wiederzusehen. Doch sechs Jahre sind eine lange Zeit: Aus dem pummeligen Elfjährigen, der am liebsten allein mit seinem Rad durch die Natur fährt, ist ein stiller junger Mann geworden, mit dem seine Angehörigen nicht recht umzugehen wissen. Alma und Linc haben auf Almas Drängen in der Zwischenzeit noch ein drittes Kind bekommen, den kleinen Bas, der zweifellos eine Art Sander-Ersatz darstellen sollte. Die Ehe hat Sanders Verschwinden indessen nicht verkraftet, Alma und Linc sind getrennt; überdies wurde Linc von den Ermittlern verdächtigt und verlor seine Arbeit - aus dem dynamischen Arbeitsmensch ist ein antriebsloser, depressiver Mann geworden. Sander kehrt also nicht heim in eine heile Familie, sondern wird mit komplizierten Verhältnissen konfrontiert. Die Familie tut sich schwer, mit Sander zu reden, er ist verschlossen, gibt nur das Nötigste über die vergangenen sechs Jahre preis. In realistischer Weise zeigt der Roman die Schwierigkeiten auf, die das Auftauchen eines Vermissten mit sich bringen kann.

Schon bald aber halten auch bedrohliche Elemente Einzug in die Handlung, die für viel Spannung sorgen. Kurze Rückblicke in die Zeit vor Sanders Verschwinden verdeutlichen, warum Iris ihrem Bruder so distanziert begegnet. Das Familienleben war mitnichten so harmonisch, wie es nach außen hin den Anschein pflegte, stattdessen gab es immer wieder bedenkliche Zwischenfälle mit Sander, die aber außer Iris niemand richtig einzuordnen wusste. Es ist offensichtlich, dass Sander zu gefährlichen und bösartigen Dingen fähig war - und möglicherweise immer noch ist. Alma hat davor zwar damals die Augen verschlossen, aber nun fallen ihr zumindest immer wieder Widersprüche auf, die Sander bezüglich seiner Entführung erzählt - und sie fragt sich, ob er sich nur falsch erinnert oder ob er bewusst lügt.

Zudem gibt es immer wieder Andeutungen, dass Iris und ihr damaliger Freund Christiaan etwas in jener Nacht im Ferienlager getan haben, was mit Sander zu tun hat und was sie verborgen halten wollen - um was es sich dabei handelt, erfährt der Leser erst spät. Schließlich kommt auch noch die Frage auf, ob es sich überhaupt um Sander handelt. Ein DNA-Test wurde nicht gemacht, da Sanders Geschichte stimmig schien, er optische Ähnlichkeit mit dem elfjährigen Sander aufwies und ihm genau wie Sander eine Fingerkuppe fehlte. Doch nach einer Weile ertappt sich Alma bei der Frage, ob sie es nicht vielleicht doch mit einem Betrüger zu tun haben.

Anita Terpstra versteht es glänzend, den Leser mit sich steigender Spannung zu fesseln, die Situation immer bedrohlicher zu gestalten, ohne dass allzu früh zu viel verraten würde. Am Ende gibt es mehrere Wendungen und Enthüllungen, die sich teilweise schon angedeutet haben; der Schluss hält aber auch Überraschungen bereit und ist vor allem sehr konsequent statt weichgespült. Man kann kritisieren, dass die Dramatik etwas gekünstelt wirkt, ist sie doch sehr auf die Spitze getrieben mit so vielen Lügen, die sich alle auf einmal offenbaren. Einer dieser Punkte für sich wäre realistisch, in der Anhäufung, was sich am Ende offenlegt, erscheint es etwas konstruiert. Das gilt erst recht für den letzten Satz, der noch einmal eine schockierende Andeutung präsentieren will, gerade für regelmäßige Leser des Genres aber sehr abgedroschen erscheint. Ein bisschen schade ist zudem, dass sich Alma nur bedingt als Sympathiefigur eignet, zu sehr distanziert man sich durch ihre deutliche Bevorzugung Sanders gegenüber Iris in der Vergangenheit.

Etwas verwirrend ist zudem die Erwähnung, dass die 2007 in Portugal verschwundene Madeleine McCann inzwischen sechs Jahre alt sein würde - wenn man davon ausgeht, dass die Handlung etwa zur Erscheinungszeit des Romans spielt, wäre sie zu dem Zeitpunkt bereits elf gewesen. Möglicherweise ein Übersetzungsfehler ist die Aussage, jemand sei wegen Pädophilie verurteilt worden, gemeint ist wohl Kindesmissbrauch.


Fazit:

"Anders" von Anita Terpstra ist ein spannender und kurzweiliger Thriller mit reizvoller Grundthematik, der zu einer schnellen Lektüre einlädt. Von kleinen Kritikpunkten abgesehen, erwartet den Leser hier mehr als nur solide Unterhaltung - empfehlenswert für alle Thrillerfans.